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Montag
06.11.2017

Medien / Publizistik

Ohne Engagement keine Zug-Aufschrift

Ohne Engagement keine Zug-Aufschrift

Die Deutsche Bahn will einen ICE-Zug nach Anne Frank benennen, die von den deutschen Nationalsozialisten via deutsche Reichsbahn ins KZ Bergen-Belsen transportiert und dort ermordet worden war. Die Klein- Report-Kolumnistin und Historikerin Dr. Regula Stämpfli über das Medienphänomen der historischen Verkitschung inklusive PR rund um die Shoah. 

 «Natürlich darf die Deutsche Bahn einen Zug nach Anne Frank benennen», meint der polemische Starkolumnist Henryk M. Broder, dessen Mutter das KZ Auschwitz, dessen Vater das KZ Buchenwald knapp überlebt hatten. «Das Mordwerkzeug nach einem Mordopfer benennen. Oder: Die Maskottchenwerdung eines Holocaust-Opfers für die PR eines Täterunternehmens», twitterte der deutsche Entertainer Jan Böhmermann, als er von dem Vorschlag der Deutschen Bahn erfuhr. 

Wer hat recht? Die Deutsche Bahn hat mit ihrer Namensgebung die in diesen Zeiten der sozialen Medien verbreitete Empörungsbewirtschaftung ausgenutzt. Zum ersten Mal seit Jahren redet man über die Deutsche Bahn nicht wegen Missmanagement, wegen Verspätungen, wegen Abzockerboni für die Bahnleitung, wegen gescheiterten Lohnverhandlungen für die unteren Bahnangestellten, sondern um ein jüdisches Mädchen. 

Anne Frank, deren Tagebucheinträge auch noch in 100 Jahren Menschen berühren werden, eignet sich wie keine zweite für Werbezwecke in eigener Sache. Dabei gibt es immer einen Seilakt zwischen Vermarktung und Erinnerungskultur – wie generell die Shoah seit «Schindlers Liste», die der Nobelpreisträger Imre Kertész als «dinosaurierhaften Spielberg-Kitsch» kennzeichnete, zu einem kommerziellen Erinnerungsunternehmen mutiert.

1960 besuchten 9000 Menschen das «Anne Frank»-Haus in Amsterdam. Im Jahr 2016 waren es über eine Million. Insgesamt haben über 32 Millionen Menschen die letzte Wohnstätte des aufgrund der antisemitischen Hetze und politischen Macht ermordeten Mädchens besucht. Dies könnte durchaus als eine Annäherung der Menschen an eine grössere Wertegemeinschaft interpretiert werden. Das Gegenteil ist indessen der Fall. Der Antisemitismus in der ganzen Welt ist gestiegen, nicht zuletzt in Deutschland und dort nicht zuletzt in den islamisch geprägten Einwanderermilieus wie auch in der drittstärksten Partei des Bundestags, der AfD.

Die Deutsche Bahn entschuldigte sich nach der Kontroverse – wie üblich nach einer Empörungswelle – und will sich nach eigener Aussage unter anderem mit jüdischen Organisationen zusammensetzen, um «die Entscheidung zu überdenken».

Jan Böhmermann, der zu Recht schreibt, dass «auf einen Zug ´Anne Frank` draufzuschreiben» die «Definition von oberflächlicher Auseinandersetzung mit Geschichte» sei, schlägt gleichzeitig auch einen sehr klugen Kompromiss vor – siehe Twitter: «Bahn-Kompromiss: Der neue ICE ´Anne Frank` hält auf der Strecke Hamburg-Hannover bei Bergen-Belsen für eine planmässige Gedenkminute an.»

Richtig. Denn eines ist klar: Ohne irgendein der Geschichte verpflichtetes und aufklärerisches Engagement der Deutschen Bahn darf kein Zug nach Anne Frank benannt werden.