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Freitag
17.02.2023

Medien / Publizistik

Grüsse aus der «Bild»-Chefredaktion: «Wir müssen einfach mehr die Büros nutzen, wenn die anderen gehen», schrieb Julian Reichelt einer Untergebenen. (Bild Screenshot ARD)

Grüsse aus der «Bild»-Chefredaktion: «Wir müssen einfach mehr die Büros nutzen, wenn die anderen gehen», schrieb Julian Reichelt einer Untergebenen. (Bild Screenshot ARD)

Nach Recherchen der ARD sollen die Machtmissbrauchs-Vorwürfe gegen Ex-«Bild»-Chefredaktor Julian Reichelt dem Axel-Springer-Verlag schon seit Herbst 2019 bekannt gewesen sein – deutlich früher als bisher bekannt.

In einen anonymen Briefkasten hätten mindestens zwei Mitarbeiterinnen Hinweise über Machtmissbrauch, Drogenkonsum und Affären des damaligen CR gegeben. Dies sei auch der Verlagsspitze unterbreitet worden, wie die ARD-Sendung «Reschke Fernsehen» am Donnerstagabend berichtete.

Die ARD-Journalistinnen waren bei ihren Recherchen im Kontakt mit rund fünfzig Beteiligten, mit zwölf haben sie Interviews geführt. Alle sagten anonym aus, mit Name und Gesicht traute sich niemand vor die Kamera. Mehrheitlich handelt es sich um Frauen, die von Julian Reichelt angemacht worden sind oder Affären und berufliche Konsequenzen erlebt haben. Aber auch eine paar männliche Kollegen äusserten sich zum Gebaren ihres Ex-Chefs.

Eine der Mitarbeiterinnen sagte, dass «Frauen unter Druck gesetzt werden, da mitzumachen, weil sie sonst beruflich abgestraft werden.»

Der interne Bericht, den der Springer-Verlag bei der Kanzlei Freshfields bestellt hatte, stützt die Aussagen der von der ARD interviewten Frauen. In einem bisher unbekannten Dokument heisst es, dass eine der «Bild»-Mitarbeiterinnen «eindrücklich und glaubhaft» von ihrer Beziehung zu ihrem früheren Chef berichtet habe.

Dass Reichelt dabei berufliche Vorteile ins Spiel brachte, geht aus dem Dokument ebenfalls hervor: «Mehrere konkrete und uns bekannte Beispiele zeigen, dass die persönlichen Interessen Herrn Reichelts hier gegenüber den unternehmerischen deutlich überwiegen.»

«Julian umwarb mich mit Komplimenten, lobte meine gute Arbeit, mein Talent, und prophezeite mir eine grosse Karriere, was mir damals als Volontärin sehr schmeichelte», sagte eine «Bild»-Mitarbeiterin gegenüber der ARD. 

Eine andere sagte: «Julian Reichelt hat mich für einen Job eingestellt, für den ich eigentlich nicht wirklich qualifiziert war. Zu einem überhöhten Gehalt. Ich habe erst später verstanden, dass der Grund sein privates Interesse an mir war.»

Auch das Gegenteil ist belegt. Mehrere der Mitarbeiterinnen sagten gegenüber der ARD aus, dass sie berufliche Nachteile erlebt hätten, weil sie gegen Julian Reichelt ausgesagt hätten.

Eine Frau sagte im Interview: «Er hat mir sehr anzügliche und übergriffige Nachrichten gesendet, auf die ich aufgrund meiner beruflichen Abhängigkeit unmöglich frei antworten konnte.» 

Tatsächlich wollen die von der ARD zitierten Chat-Nachrichten, die vom Chefredaktor an seine Untergebenen geschickt wurden, nicht so recht ins Schema von Beruf und Professionalität passen: «Die Situation zwischen uns ist überwältigend und ich frage mich die ganze Zeit, ob wir das machen sollten.» Oder: «Es ist halt so riskant und fühlt sich trotzdem so richtig an.» Oder: «Wir müssen einfach mehr die Büros nutzen, wenn die anderen gehen.»

Ein männlicher Kollege hatte in den Konferenzen «natürlich bemerkt, dass Julian Reichelt seine Machtposition immer auch eingesetzt hat, um gegenüber anderen, vor allem jungen, attraktiven Frauen klar zu machen, ich bin hier der grosse Hecht.»

Und ein anderer sagte gegenüber der ARD: «Mir wurde mal von einem Kollegen gesagt, Vorsicht, die ist eine von Julian. Dann war klar, die ist mit Samthandschuhen anzufassen.»

Julian Reichelt bestreitet bis heute die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Sein Anwalt spricht von einer «offenbar kollusiven Verleumdungskampagne».

Reichelt hat die Vorwürfe sogar ins Gegenteil zu verdrehen versucht. So durfte er sich beim österreichischen Sender Servus TV nach seinem Rausschmiss bei der «Bild» als der grosse Frauenförderer hinstellen: «Ich glaube tatsächlich, dass ich dazu beigetragen habe, an ganz vielen Positionen Frauenkarrieren zu ermöglichen bei Axel Springer und ‚Bild‘, die vorher leider und fälschlich nicht möglich waren.»

Gegenüber der ARD sagte eine ehemalige «Bild»-Mitarbeiterin: «Das Machtnetzwerk von Springer reicht weit über den Konzern hinaus.» 

Bei Axel Springer gab man sich unbekümmert von den jüngsten Enthüllungen: «Wir haben unsere Lehren aus der Vergangenheit gezogen, was die kulturelle Entwicklung betrifft, bereits viel verändert, und schauen jetzt wieder nach vorne», antwortete der Verlag auf einen ausführlichen Fragekatalog.