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Sonntag
15.03.2009

Roger Blum, von 1991 bis 2001 Präsident des Schweizer Presserates, machte sich für den Klein Report Gedanken zur medienethischen Verantwortung in Bezug auf Namensnennung und das Publizieren von Bildern. Was dürfen Medien?

Der Professor für Medienwissenschaft an der Universität Bern reagiert auf die Ankündigung des Presseratspräsidiums vom Freitag, die Berichterstattung im Mordfall Lucie von sich aus aufzugreifen und zum Gegenstand einer Stellungnahme zu machen. Die restriktive Praxis des Rates in Sachen Namensnennung spiegelt sich in den Stellungnahmen 7/1994 und 6/2003.

Roger Blum: «Am Freitag zeigte der `Tages-Anzeiger` den Mörder von Lucie mit vollem Namen und postkartengross im Bild. Zur gleichen Zeit waren im Internet und in deutschen und internationalen Medien Bilder des Namensschilds an der Wohnungstür der Eltern des Amokläufers Tim im baden-württembergischen Winnenden zu sehen. Name, Wohnhaus, Bild: Jedermann kann so die Spuren und Netzwerke von Dani H. und Tim K. verfolgen.

Darf man das? Die Aargauer Behörden hatten am Donnerstag den Namen und das Bild des Mörders von Lucie freigegeben. Die zuständigen Behörden in Deutschland hatten nicht gesagt, man dürfe nicht im Garten der Eltern des Amokläufers frei herumtrampeln und die Wohnung stürmen. Kommt es überhaupt darauf an, was die Polizei sagt?

Dominique von Burg, der Präsident des Schweizer Presserats, will jetzt, dass sein Gremium prüft, ob die Medien, die den Mörder Lucies zeigten, medienethisch korrekt handelten oder ob die Devise von 1994 nach wie vor gelten soll, dass die Freigabe von Täter-Bildern und Täter-Namen durch die Polizei die Medien nicht davon entbindet, selbstständig zu prüfen, ob das freigegebene Material wirklich publiziert werden soll.

Was der Schweizer Presserat 1994 beschlossen hat, ist nicht eine restriktive Praxis, sondern ein Festhalten am Grundsatz, dass die Medien medienethisch selber für ihr Tun verantwortlich sind. Wenn die Polizei oder wenn die Untersuchungsbehörden ein Bild oder einen Namen oder beides freigeben und die Medien sich dann berechtigt fühlen, dies zu publizieren, dann heisst das doch: Die Medien unterwerfen sich dem Staat und seinen Instanzen, sie sind nicht wirklich unabhängig, sie machen von der Pressefreiheit nicht eigenständig Gebrauch, sondern nutzen sie, weil der Staat sagt, sie dürfen. Dies ist ein Rückfall in die Zeit des Ancien Régime vor der Französischen Revolution.

Die Medien können sich weder vom Staat vorschreiben lassen, was sie publizieren, noch können sie sich vom Staat entlasten lassen dafür, dass sie etwas publizieren. Sie müssen die Verantwortung selber übernehmen. Das ist der Sinn der Medienfreiheit. Freiheit ist immer gepaart mit Verantwortung. Und wenn Bilder und Namen von Personen zur Debatte stehen, bei denen es um schützenswerte Güter geht, kann der Entscheid der Medien immer in beide Richtungen laufen: Entweder die Personen schützen und die Angaben nicht publizieren. Oder andere Güter höher gewichten und publizieren. Medienethik heisst, dass in jedem Fall neu abgewogen wird.

Ist zum Beispiel ein Täter oder ein Verdächtigter flüchtig und bewaffnet, so müsste die Güterabwägung der Redaktionen darauf hinauslaufen, das Bild zu zeigen und den Namen zu nennen, denn es gilt, die Bevölkerung zu warnen und damit zu schützen. Handelt es sich jedoch bei einem gefassten Mörder um einen verheirateten Familienvater mit Kindern, der sich als Mörder herumtrieb, ohne dass seine Familie eine Ahnung hatte, dann müsste die ethische Prüfung auf einer Redaktion eher zum Schluss kommen, dass man im Interesse der Frau und der Kinder den Namen nicht nennt und das Bild nicht zeigt. Unschuldige Angehörige sind kein Freiwild.

Damals, als der Berner Frauenmörder verhaftet war und die Medien seinen Namen wussten, verfolgten die Boulevardblätter erbarmungslos seine Freundin. Sie, die von den nächtlichen Untaten ihres Partners keine Ahnung gehabt hatte und selber unter Schock stand, musste untertauchen, um der Belästigung des Boulevards zu entgehen. Wenn Medien alles öffentlich machen, was über Kriminelle überhaupt nur zu erfahren ist, dann sind nicht nur die vom Täter Geschädigten, Ermordeten und ihre Angehörigen die Opfer, auch die Angehörigen des Täters sind Leidtragende.»