Nach einem qualitativ wenig überzeugenden Beginn hat der Wettbewerb am 55. Internationalen Filmfestival in Cannes inzwischen erste Höhepunkte zu bieten. Im Vordergrund stehen der britische Film «All or Nothing» und die US-Beiträge «Punch-Drunk Love» und «Bowling for Columbine».
Mit seiner Londoner Milieustudie «All or Nothing» sorgt der Brite Mike Leigh, der bereits zum dritten Mal im Wettbewerb von Cannes vertreten ist, für einen der Höhepunkte. In der Tradition von «Life is Sweet» und «Secrets and Lies» zeigt auch seine neue Betrachtung britischer Befindlichkeit den proletarischen Alltag. Sie wohnen in einer schäbigen Vorortssiedlung. Er ist
Taxifahrer, sie arbeitet als Kassiererin im Supermarkt, ihre
Tochter ist Putzfrau im Altersheim, und der Sohn arbeitslos. Das höchste Glück ist das Bier im Pub nach der Arbeit, und der grösste Traum sind Ferien in Disneyworld. Die Menschen bei Leigh sind ungepflegt und hässlich, aber wirklich. Präzise beschreibt er ihre Nöte und Ängste, und man glaubt ihm, dass er Realität abbildet.
In einer US-amerikanischen Kleinstadt, aber im gleichen Milieu spielt «Punch-Drunk Love» des 32-jährigen Paul Thomas Anderson, der 1999 mit «Magnolia» erfolgreich war. Seine Hauptfigur ist eine tragische Gestalt, wie sie Kafka geschaffen haben könnte. Er ist ein kleiner Unternehmer, der es auf keinen grünen Zweig bringt. Zahlreiche Phobien und Sonderbarkeiten machen ihm das Leben schwer. Wieso die Dinge so sind wie sie sind, versteht er nicht. Er hat zudem sieben Schwestern, die dauernd an ihm herumnörgeln, und keine Freundin. Anderson ist nicht wie Leigh ein Realist, der das Leben möglichst präzise abbilden will. Seine Bilder sind Ausdruck des Seelenzustands seines Protagonisten.
Auch der zweite US-Beitrag im Wettbewerb vermochte zu gefallen. Er hat gar den bisher grössten Applaus einer offiziellen Vorführung erhalten. «Bowling for Columbine» von Michael Moore ist der erste Dokumentarfilm im Cannes-Wettbewerb seit 46 Jahren. Moores Film gefällt in Frankreich vielleicht darum besonders, weil er sehr böse mit den USA umgeht. Ausgehend vom Schulmassaker an der Columbine High School in Littleton, bei dem 1999, wie im April dieses jahres in Erfurt, Schüler und Lehrer erschossen wurden, beschreibt er die Waffenmanie der Amerikaner. Da erhält man etwa ein Gewehr zur Auswahl, wenn man bei einer Bank ein Konto eröffnet, und kann im normalen Supermarkt Munition kaufen. Diese Waffenkultur attackiert Moore scharf.
Montag
20.05.2002