Der Kanton St. Gallen sagt «Ja» zum Burkaverbot, rund zwei Drittel der Stimmenden stimmten der Vorlage zu. Das neue Gesetz schaffte es überall in die internationalen Schlagzeilen. Die Politologin Regula Stämpfli kommentiert für den Klein Report die Macht der Fiktion über die Realität.
Alle Schlagzeilen reden von einem «Ja zum Burkaverbot». Dass dieses nur zur Geltung kommt, wenn die öffentliche Sicherheit, der religiöse oder der gesellschaftliche Friede gefährdet ist, kommt viel seltener zur Sprache. Dafür kriegt der Islamische Zentralrat Schweiz (IZS), ein fundamentalistischer Verband, der eine verschwindend kleine Minderheit der gläubigen Muslime in der Schweiz vertritt, umso mehr Aufmerksamkeit. Dies nicht zuletzt, weil der IZS sich unter anderem auf Retweets von linksgrünen und gendertheoretischen Posts in den sozialen Netzwerken spezialisiert hat.
IZS und poststrukturalistische Genderaktivisten verurteilen nämlich jede Einschränkung von religiösen und fundamentalistischen Kleidervorschriften als «rassistisch», am liebsten aber als «islamophob». Laut Presseberichten sprach der IZS nach der Volksabstimmung, die notabene demokratisch vonstattenging und von zwei Dritteln der Stimmenden unterstützt wurde, von einem «schwammigen islamophoben Gesetz» und einem «weiteren Zeichen für die in der Schweiz grassierende gesellschaftliche Islamophobie».
Kaspar Surber, Redaktionsleiter der linken Wochenzeitung «WOZ», twitterte: «Während 38 Jahren sah ich in St. Gallen keine Burka. Und dann das.» SP-Justizdirektor Fredy Fässler meinte gegenüber SRF: «Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass dieses Gesetz je und überhaupt einmal angewendet wird.» Der Präsident der SVP St. Gallen, Walter Gartmann, fasste zusammen: «Man hat die Diskussionen im Tessin und in Österreich gesehen. Das Unbehagen ist einfach da.»
Wir rekapitulieren: Angenommen wurde mit grosser Mehrheit ein schwammiges Gesetz mit einem Verbot zu einem Phänomen, das in St. Gallen noch nie gesichtet wurde. Darüber hinaus wird das Gesetz nach Ansicht des Polizei- und Justiz-Direktors des Kantons St. Gallen nie zur Anwendung kommen. Trotzdem erfüllt das wuchtige Ja die Beruhigung einer Bevölkerung, deren politische Ablehnung von Gesichtsschleiern in den sozialen Netzwerken, am Stammtisch und innerhalb der rechtspopulistischen Parteien sehr laut geworden ist.
So gesehen war die Abstimmung in St. Gallen genial. Denn alle sind glücklich. Die Radikalen können weiterhin «Islamophobie» schreien, die Rechtspopulisten das Unbehagen einer neuen Mehrheit für sich reklamieren und die Politiker sich zurücklehnen, da das Gesetz ja eh nie zur Anwendung kommen wird.
Die Fiktionen aller Lager bleiben gewahrt, während sich in der Realität faktisch überhaupt nichts ändern wird. So gesehen hat sich die direkte Demokratie als Ritual und friedenssichernde Fiktion in St. Gallen am 23. September 2018 bestens bewährt.