Ein Skandal nennens die einen, andere sprechen von einem Familienzwist auf dem «Feinschmecker-Planeten» oder vom grossen Sturm im Kochtopf. Die Rede ist von den Enthüllungen eines geschassten Küchentesters des renommierten Führers «Guide Michelin» - sein Name: Pascal Rémy. (Rémy, ja, fast wie Remy Martin, dem Cognac, auf dem ein Kentauer mit Pfeilen um sich wirft.) Nur jedes zehnte der 9500 aufgeführten Restaurants oder Hotels werde auch tatsächlich von den Topfguckern des «Guide Rouge» besucht, so Rémys Offenbarung. Eine Enthüllung, die niemand hören möchte, er aber letzte Woche jeder Zeitung, die sich dafür interessierte - mit vielen Détails angereichert - servierte. Die Zahl der Testesser, so Rémy weiter, könne man zudem an zwei Händen abzählen.
Auch gebe es Restaurants, an deren hoher Bewertung in dem Gourmetführer niemals gerüttelt werden dürfe, obwohl doch ein Drittel der Drei-Sterne-Köche diese Bestnote nicht verdiene. Im Gastronomie-Paradies Frankreich schlugen die offenen Worte Rémys wie eine Bombe ein. Nach 16 Michelin-Jahren entlassen, will Rémy nun seine Notizen von 200 Testessen jährlich veröffentlichen.
Rémy bricht damit das Gesetz des Schweigens, mit dem sich dieser wichtigste europäische Gastro-Führer absichert. Was anonyme Tester anrichten können, darüber spekulierte ganz Frankreich bereits vor einem Jahr. Als sich der anerkannte Spitzenkoch Bernard Loiseau aus dem Burgund das Leben nahm, kam sofort auch aus dem Kollegenkreis die Mutmassung auf, er habe eine Herabstufung in diesem Führer befürchtet. Zu Unrecht, wie sich herausstellte. Der tragische Tod des Küchenchefs warf ein Schlaglicht auf die Ängste am Kochtopf, wenn der neue «Guide Rouge» in die Läden kommt. Nervös und gespannt wartet der «Feinschmecker-Planet» im Moment auf das Buch des Abtrünnigen Rémy: Enthüllungen über das bisher verborgene Innenleben der Küchenkritik sind in grossem Stile angesagt. Bon appétit!
Montag
16.02.2004