Das bereits 15. Forum der Publicitas befasste sich am Donnerstag im Zürcher Kino Arena Sihlcity mit der Zukunft der Werbung und der Medien. Der Titel «Augmented Reality», was als «Erweiterte Realität» übersetzt werden kann, hatte Signalwirkung. Publicitas-CEO Beat Roeschlin eröffnete den Reigen der Redner und begrüsste die 500 Anwesenden im abgedunkelten Kinosaal. Er sei vor dem Wechsel zur Publicitas darauf aufmerksam gemacht worden, dass er sich «hier im Epizentrum der Medienrevolution» befinden werde. Er werde die Krise des Printbereichs hautnah zu spüren bekommen.
Dann war es an Moreno Cavaliere, CEO Print National Publicitas, die Highlights der Printmedienwelt des laufenden Jahres zu verkünden. Cavaliere leierte flink alle vollzogenen Relaunches, Chefredaktorenwechsel und Zeitungsfusionen und so weiter herunter und wollte wohl etwas von der negativen Entwicklung im Printgeschäft ablenken. Über Investitionen und Gewinnchancen schwieg sich der Vermarktungsmann jedoch aus.
Dann war der Zukunftsforscher Nils Müller von TrendOne aus München angekündigt, von Moderator Hugo Bigi ins Thema eingeführt. Aber Müller trat nicht in Erscheinung, sondern rannte im Dunkeln durch den Kinosaal - auf und ab. Was dann geschah, wirkte wie ein veritables Omen für die Zukunftsmusik der «Erweiterten Realität». Es blieb dunkel im Saal, eine Minute, dann mehrere ...; Jugendliche hätten bereits ein Pfeifkonzert veranstaltet. Die gesitteten Gäste der Publicitas von Kundenseite, aus Werbung und Medien jedoch blieben stumm, in Erwartungshaltung. Aber... Es geschah nichts!
Als dann der computergesteuerte Beitrag von Nils Müller startete, ging es dann aber fulminant ab. Im anglofonen Sprachengemisch trug der Deutsche alle möglichen Forschungsergebnisse und neuen Softwareprodukte vor und präsentierte diese live mit einem Android-Handy. «So wird die Realität erweitert, mit neuen Technologien, die Gesichter und Objekte erkennen und so mit Datenbanken und Informationen verbinden können.»
Der kritische Klein Reporter fragt sich jedoch, warum braucht es alle diese technischen Finessen, um Produkte oder Ideen an die Frau und den Mann zu bringen? An die Fantasie des einzelnen Menschen glauben die Visionäre kaum, denn sie wollen alles erklären, Emotionen auslösen und zu guter Letzt alles demonstrieren. Man kann sich auf Plattformen mit seinem Future-Handy einloggen und am Monitor Kleider probieren oder virtuell durch Häuser und Büros wandern; natürlich alles in 3-D-Dimension.
Die nach Müller referierende Zukunftsdame Marion Marxer (Leiterin Digital & Dialog bei Jung von Matt/Limmat) setzte gar zum Hohelied der Future-Society an und meinte knapp: «Bis in 20, 30 Jahren werden die Kinder nicht mehr zwischen virtuell und real unterscheiden können.» Als ob dies gesellschaftspolitisch erwünscht wäre, muss da der Klein Report anmerken. Ein Zustand übrigens, der bereits bei einigen Kindern und Jugendlichen zu wirken beginnt, was aber Eltern und Lehrer kaum in Glückseeligkeit versetzen wird. Brutalität und Einsamkeit sind oft Folgen von Computersucht.
Auch Marion Marxer wies mehrmals auf die clevere Vision hin, dass alles Digitale individualisiert werden kann; der Einzelne könne sich so einbringen. Dann jedoch setzte die Digitalwerberin hinzu, was man den Leuten alles so näherbringen kann. Offenbar geht Marxer nicht von selbstständig denkenden Wesen aus.
Manipulation wird kaum mehr wahrgenommen, sagt da der Klein Report, wie im (Gott sei Dank seligen) Kommunismus will man die Menschen ideologisch infiltrieren und auf Konsum trimmen. Bereits Eric Blair (alias George Orwell) warnte bereits im Roman «1984» vor dem totalen digitalen Überwachungsstaat. Heute geht es mehr um die totale digitale Konsumwelt.
Wenn die neuen digitalen Technologien eine positive Entwicklung darstellen sollen, heisst das nicht unbedingt, dass diese gesamtgesellschaftlich von Nutzen sind. Von Visionären der künftigen Welten könnte man auch mehr erwarten, nicht nur die Auflistung von spektakulären technischen Novitäten. Die Objekterkennung über Augenlaser wird von der Forschung intensiv betrieben, sodass das künftige Handy wie ein Passepartout für alle digitalen Handlungen eingesetzt werden kann. Nils Müller: «2021 braucht man keine www-Adressen mehr; das total interaktive Pad führt uns durch alle digitalen Welten. Das heutige Web 2.0 entwickelt sich immer schneller in Richtung Web 5.0, wo alles virtuell und real möglich ist.»
Der Münchner Zukunftsfritz parlierte sich mal Englisch, und dann wieder Deutsch durch sein digitales Universum, wo praktisch alles realisierbar ist; eben «erweiterte Realität». Die Applikation Google Goggles (for Android) eröffnet schon heute das Spektrum dieser totalen Future-Gesellschaft. Dieses Wunder-Android-Handy der Zukunft kann praktisch alles; Hält man das Gerät zum Himmel, so wird sofort die Wetterprognose samt aktueller Temperatur heruntergerattert. Für die Trendforscher stellte sich aber während des hastigen Referats mit Riesenspektakel auf dem grossen Monitor nie die Frage, ob wir das alles auch brauchen.
In der abschliessenden Talkrunde sprach nur einer aus, was eben gelassen nach dieser Show von Zukunftsmusik zu sagen war: «Mich interessiert eigentlich nur, wie man mit diesen neuen Technologien Geld verdienen kann», meinte «Weltwoche»-Verleger Roger Köppel etwas düpiert, weil niemand diese Frage angedacht hatte. Ein Blick in die Zukunft der digitalen Medienwelt war es, was am P-Forum geboten wurde.
Freitag
01.10.2010




