Macher und Leser der «Neuen Zürcher Zeitung» sind stolz darauf, dass die renommierte NZZ bereits 1780 gegründet wurde. Was in der Medienstadt Zürich aber verschwiegen wird: Im späten 18. Jahrhundert prägten nicht etwa die Zürcher, sondern die Appenzeller den Schweizer News- und Boulevardjournalismus. Welche Berichterstattung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirklich die breiten Bevölkerungsschichten erreichte, zeigte Professor Alfred Messerli, Lehrbeauftragter am Institut für populäre Kultur an der Universität Zürich, am Dienstag auf. Er hielt in der Aargauer Kantonsbibliothek einen rund 75-minütigen Vortrag mit dem Titel «Volkskalender als Nachrichtenmedium». Der Klein Report war dabei.
Der auflagenstärkste Schweizer Volkskalender war der «Appenzeller Kalender» aus dem Kanton Appenzell-Ausserrhoden. Der einmal im Jahr erscheinende Kalender wurde weit über die Kantonsgrenzen hinaus verkauft und sollte es im 19. Jahrhundert auf eine Auflage von rund 80 000 Exemplaren schaffen. Der Kalender, der noch heute erscheint, erreichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Umfang von 30 bis 70 Seiten und war mit durchschnittlich sieben Holzstichen besser bebildert als jeder vergleichbare Kalender. Zum Vergleich: Der ebenfalls populäre, in Bern produzierte «Hinkende Bote» kam damals erst auf 4 Abbildungen pro Jahresausgabe.
«Der `Appenzeller Kalender` umfasste ein Kalendarium mit zahlreichen Angaben über den Jahresablauf, Ratgeberseiten, Artikel über Ereignisse der Vorjahre und fiktionale Beiträge», erklärte Alfred Messerli. Eine weitere beliebte Rubrik war der Fortsetzungsroman. «Über Jahre hinweg wurden die Abenteuer von Robinson Crusoe abgedruckt», so Messerli.
Für viele Familien waren die Volkskalender damals der einzige Lesestoff mit Newscharakter. Zeitungen waren bis in den 1830er-Jahren ein Luxusgut, das für viele Schweizerinnen und Schweizer nur in Lesezirkeln erschwinglich war. Wer eine regelmässige Zeitungslektüre wünschte, löste gemeinsam mit Familien aus der Nachbarschaft ein Abonnement für eine Wochenzeitung. Die Exemplare wurden dementsprechend immer von Haus zu Haus weitergaben. Der Volkskalender hatte dagegen seinen festen Platz in der Wohnstube.
Viele Schweizerinnen und Schweizer lasen so erstmals im «Appenzeller Kalender» ausführlich über den ersten Ballonflug der Gebrüder Montgolfier anno 1783 oder über den Sturm auf die Bastille 1789 - infolge des frühen, jeweils im Sommer liegenden Redaktionsschlusses erst um die zwei Jahre später. «Urs Bitterli hat errechnet, dass damals wichtige Auslandsnachrichten erst nach vier Jahren in allen Haushalten bekannt waren. Immerhin wusste dann aber auch die ganze Schweiz Bescheid», so Messerli. Was erfuhr die Leserschaft des Appenzeller Kalenders aber wirklich? Der Kalender schilderte die Ereignisse zwar in lesenswerten Reportagen. Doch griff die Berichterstattung über den Traum des Fliegens auf die griechische Mythologie zurück. Und beim Sturm auf die Bastille legte man das Schwergewicht auf eine schockierende Boulevardgeschichte über einen nach über 20 Jahren befreiten Unschuldigen. Die Geschichte basierte auf falschen Pariser Gerüchten.
Die Kantonsregierungen beargwöhnten in der bis 1798 dauerenden Alten Helvetik die Volkskalender zwar, verzichteten aber auf Zensurmassnahmen. Aus gutem Grund: In einer Art Selbstzensur klammerten die Volkskalender in ihrer Berichterstattung regionale und nationale Themen aus. Es gab auch Ausnahmen.
Als 1770/71 eine Handelskrise zwischen der Eidgenosssenschaft und Süddeutschland dazu führte, dass kein Getreide mehr in die Schweiz importiert wurde, berichtete der «Appenzeller Kalender» darüber, welche verheerenden Folgen dies für die breite Bevölkerung hatte. Der Abdruck von Totenlisten brachte dem Verleger eine scharfe Rüge der Obrigkeit ein. «Sie warfen ihm vor, geheime Daten veröffentlicht zu haben. Es sei schlecht für das Ansehen eines Landes, wenn öffentlich über Staatskrisen berichtet würde», führte Messerli aus. Dementsprechend war Gesellschaftskritik fast ausschliesslich versteckt in Glossen, in den beliebten sogenannten Kalenderschwenken, zu finden.
Donnerstag
24.06.2010



