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Montag
14.08.2023

Kino

Oberholzer machte Karriere als Filmredaktor bei Radio24 und hat jetzt ein Buch geschrieben über seine ersten 12 Lebensjahre in einem Kinderspital...        (Bild: Zeljko Gataric/zVg))

Oberholzer machte Karriere als Filmredaktor bei Radio24 und hat jetzt ein Buch geschrieben über seine ersten 12 Lebensjahre in einem Kinderspital... (Bild: Zeljko Gataric/zVg))

Der bekannte Filmredaktor Alex Oberholzer kam 1953 mit Missbildungen an Hand und Fuss zur Welt. Im Jahr darauf erkrankte er an Kinderlähmung. Die folgenden zwölf Jahre erlebte der teilweise gelähmte Junge in der hermetisch abgeschlossenen Welt des Kinderspitals Affoltern, in der es fast nur Frauen gab: Frauen mit weissen Häubchen.

Jetzt hat Alex Oberholzer ein Buch über diese Zeit im Spital geschrieben. «Im Paradies der weissen Häubchen» berichtet von Prothesen, Schienen und Korsetts, von Höhen und Tiefen und seinem ersten Kinoerlebnis.

Die schwere Zeit im Spital hat Alex Oberholzer geprägt und gestärkt. Später studierte er Mathematik und Literaturwissenschaften in Zürich. Nach einer kurzen Zeit als Lehrer war er dreissig Jahre lang als Filmredaktor bei Radio24, verschiedenen TV-Stationen sowie in der Kommunikation des Bundesamts für Sozialversicherungen tätig.

Der Klein Report hat sich mit Alex Oberholzer ausgiebig über sein Buch und seinen Weg aus dem Korsett des teilweise Gelähmten zum agilen Medienprofi unterhalten.

Was hat den Ausschlag geben, ein Buch über Ihre Jugendjahre in einem Zürcher Kinderspital zu schreiben?
Alex Oberholzer:
«Wenn man als Kind erst mit zwölf Jahren aus dem Spital kommt, hat man keinen blassen Schimmer vom Leben. Du hast eine völlig andere Wahrnehmung. Das ist mir erst später bewusst geworden, als ich angefangen habe, darüber nachzudenken. Und dann wollten immer mehr Leute aus meiner Umgebung wissen: Wie ist das eigentlich, wenn man so aufwächst? Das hat dann die Idee zu diesem Buch gegeben.»

Eine Art persönliche Analyse?
Oberholzer:
«Das Aufarbeiten meiner Jugend ist einer von zwei Gründen, wieso ich das Buch überhaupt geschrieben habe. Die Leute fragten, wie hast du das geschafft, nachdem du zwölf Jahre in einem Spital gelebt hast, im richtigen Leben überhaupt Fuss zu fassen? Denn man weiss ja, wie entscheidend die ersten zwölf Jahre sind. Und die meisten, die mit mir zusammen gleichzeitig im Spital waren, haben es nicht geschafft. Über solche Hintergründe wollte ich nachdenken.»

Und der zweite Grund?
Alex Oberholzer:
«Der zweite Grund ist genauso wichtig: Ich habe bei diesen Schilderungen immer gemerkt, wie dankbar ich dem Personal bin. All diesen Schwestern, den Physiotherapeutinnen, den Ergotherapeutinnen. Diese haben mir unendlich viel Kraft gegeben und sie waren dafür verantwortlich, dass es so mit mir gekommen ist. Ich wollte als Erwachsener später ein paar dieser Schwestern wieder aufsuchen. Damit ich ihnen danken kann. Aber der Datenschutz erlaubte das nicht. Man wollte mir keine Adressen geben. So habe ich mich entschlossen, ihnen über den Weg dieses Buches zu danken.»

Im Vorspann erklären Sie Ihre Krankheit. Im Nachwort von Andreas Meyer-Heim, Chefarzt Kinder-Reha Schweiz Universitätsspital Zürich, werden die medizinischen Fortschritte beschrieben. Wie wichtig war diese Einordnung?
Oberholzer:
«Die war mir sehr wichtig. Ich habe auch von Beginn weg, als ich wusste, dass ich dieses Buch schreibe, mit Andreas Meyer-Heim Kontakt aufgenommen. Ich gebe mit ihm zusammen eine Fortbildung für Kinderärzte. Er zeigt dabei Situationen von heute und ich schildere jeweils ein paar Anekdoten, wie es früher gewesen ist. Deshalb weiss ich um diese Diskrepanz. Diese ist immens, in vielen Bereichen, von der Pädagogik über die Erziehung bis zu den medizinischen und therapeutischen Entwicklungen gab es eine 180-Grad-Wende. Deshalb war für mich klar: Diese Vergangenheit darf auf keinen Fall alleinstehen. Es muss erwähnt werden, dass es heute ganz anders ist.»

Ein Beispiel?
Alex Oberholzer:
«Das extremste Beispiel: Meinen Eltern hat man gesagt, sie sollen mich bitte nicht besuchen, wegen der Gefahr von Bazillen, die sie ins Spital einschleppen könnten. Zudem würden sie bei jedem Besuch das Heimweh entfachen. Heute stellt man das Elternbett neben das Kinderbett und lässt bei Bedarf auch noch den Hund mit ins Spital kommen.»

In Ihren Erzählungen klingen Sie versöhnt. Sie sehen die Sache auch mit Humor. Ist das nur im Rückblick so? Haben Sie nicht viel mehr mit diesem Schicksal gehadert?
Oberholzer:
«Die Beispiele werden im Buch erzählt, wo ich schlimme Situationen erleben musste. Aber genau wie es in diesen Beispielen beschrieben wird, ist es wirklich so, dass aus diesen schlimmen Situationen immer auch sofort etwas Positives entstanden ist. Das habe ich damals im Moment jeweils gespürt. Das war nur so dank dem Personal. Damals hatten die Schwestern sich noch Zeit nehmen können. Sie haben sich mit uns Kindern auseinandersetzen können. Was ja heute nicht mehr möglich ist, mit den Fall-Pauschalen und allem. Damals gab es menschliche Qualitäten, die ich reihenweise im Kinderspital erleben durfte. Das hat entscheidend dazu geführt, dass ich später zu dem werden konnte, was ich heute bin.»

Wieso haben Sie bis nach Ihrer Pensionierung gewartet, um ein Buch über diese Kindheit zu schreiben?
Alex Oberholzer: «Ich hatte sehr lange das Gefühl, diese Erlebnisse seien zu privat. Das interessiere niemanden. Und dann ganz pragmatisch: Ich habe nie Zeit gefunden für das Buch, weil ich 100 Prozent gearbeitet hatte. Ich hatte ständig zwei 50-Prozent-Stellen, zuerst bei Radio und Fernsehen, dann bei Radio und Bund, in der Kommunikation beim Bundesamt für Sozialversicherungen. Daneben hatte ich eine Familie mit vier Kindern.»

Die Pubertät ist fast verschämt kurzgehalten im Buch. War das ein bewusster Entscheid?
Oberholzer:
«Meine Pubertät ist erst zu Hause passiert, nach der Entlassung aus dem Spital. In dieser Phase habe ich mich völlig abgekapselt, habe mich zurückgezogen und mich nicht getraut, mich in dieser Gesellschaft zu bewegen. Dann bin ich zum Glück ins Gymnasium aufgenommen worden. Aber am Rämibühl war ich in einer reinen Männer-Klasse. Alle anderen hatten ihre Freundinnen. Und ich wusste, ich werde der letzte sein, der mit einer Frau etwas haben kann. Das betrifft aber nicht mehr die Zeit im Kinderspital.»

Sie schildern dafür ziemlich abenteuerlich, wie Sie mit dem Rollstuhl und nur einer funktionsfähigen Hand ganz alleine 20 Kilometer die Rennstrecke eines Berges runterrollten und mit dem Schlauchboot bei Mistral auf das offene Meer hinausgetrieben wurden. Sind solche Szenen aus der Feder von Filmkritiker Alex Oberholzer als eine filmische Darstellung Ihrer Ausbruchsversuche in der Pubertät zu lesen?
Alex Oberholzer:
«Das hat schon damit zu tun. Mit solchen Abenteuern wollte ich auch dem Pflegepersonal, das ja bei diesem späteren Ausflug in die Provence mitgekommen ist, imponieren. Ich habe auch mit meinem Rollstuhl getanzt. Ich machte aus dem Hilfsmittel ein Ausdrucksmittel.»

Was wollen Sie mit dem Buch? Mut machen, aufklären? Medizingeschichte aufarbeiten?
Oberholzer:
«In allererster Linie will ich dem Personal danken. Man hat es ja während Corona sehen können, wie völlig überlastet diese Leute sind, wie am völlig falschen Ort gespart wird. Ich habe vor drei Jahren einen medizinischen Rückfall erlitten. Für eine normale Person würde das einen ambulanten Tag im Spital bedeuten. Bei mit wurden daraus zwei Monate. Da habe ich sehen können, wie eine Pflege – so wie damals bei mir im Kinderspital – heute gar nicht mehr möglich wäre. Das Personal ist dermassen eingespannt. Heute würde ich, wenn ich so lange im Spital bleiben müsste wie damals, garantiert seelisch verkümmern. Damals nicht, denn die Schwestern durften sich für uns noch Zeit nehmen.»

Sie sind Filmkritiker und als solcher bewerten Sie die Arbeit anderer. Ist es auch ein Bedürfnis gewesen, einmal selbst etwas künstlerisch gestalten zu wollen?
Alex Oberholzer:
«Überhaupt nicht. Ich finde auch, es ist nichts Künstlerisches, was ich da geschrieben habe. Also keine Literatur. Ich habe ja selbst Literaturwissenschaft studiert und kenne den Unterschied. Was ich mache, ist eine Zustandsbeschreibung.»

Was erwarten Sie vom Buch?
Oberholzer:
«Eine heimliche Sehnsucht ist natürlich, dass sich zwei oder drei Schwestern im Buch wiedererkennen. Dass die noch leben und sich bei mir melden. Und dann hoffe ich, dass viele Leute, die heute in einem solchen Pflegeberuf tätig sind, über meine Geschichte realisieren, wie enorm wichtig ihre Arbeit ist. Dass ihre Arbeit viel wichtiger ist als nur die Dienstleistungen, die Wunden zu verbinden oder das Essen zu bringen. Jede Sekunde ihrer Präsenz, jede Regung ihrer Seele beim Kontakt mit den ihnen Anvertrauten hat einen enormen Einfluss.»

Die Schwestern sind eine Art Familienersatz. Haben Sie sich mit Ihren Eltern noch versöhnt? Diese hätten Sie zu sich nehmen können, wollten das aber nicht und haben es Ihnen auch nicht gesagt.
Alex Oberholzer:
«Ja, ich habe mich auf jeden Fall versöhnt. Aber ich habe nie mehr ein solches Vertrauensverhältnis entwickeln können, wie ich das mit meinen eigenen vier Kindern erleben darf. Auch wenn ich die ersten zwölf Jahre selbst keinen Vater erleben durfte, sagen mir heute meine Kinder, dass ich der beste Vater geworden sei.»

Was hat Ihnen Kraft gegeben, das Leben nicht einfach schleifen zu lassen?
Oberholzer:
«In den Jahren nach dem Spital, im Gymnasium bis zur Matura, war ich natürlich oft sehr verzweifelt. Das haben wahrscheinlich viele in der Pubertät. Aber ich durfte auf ein Fundament zählen, das ich im Spital vom Personal bekommen habe. Die haben mich mit Selbstwertgefühl vollgepumpt, zum Teil fast vorsätzlich. Das hat eine Lebensfreude entwickelt, auf die ich heute vertrauen kann. Zudem bin ich von Natur aus ein optimistischer Mensch.»

War es nie eine Idee, das Buch über die Kindheit hinaus spielen zu lassen? Das Leben hat sich mit Ihren Jobs in den Medien ja sehr spannend entwickelt.
Alex Oberholzer:
«Ja, aber was mich am meisten von den anderen Leuten unterscheidet, ist diese Jugend, völlig hermetisch abgeschlossen in diesem Kinderspital. Anschliessend nähere ich mich ja immer mehr der Gesellschaft an. Das war auch ein schwieriger Prozess. Aber der unterscheidet sich immer weniger von dem von vielen anderen.»

Die Zeit danach: Was machen Sie heute? Auf Ihrer Webseite steht einiges.
Oberholzer:
«Ich habe drei Jahre über die Pensionierung hinaus beim Radio gearbeitet. Seit ich von den Stöcken zum Rollstuhl wechseln musste, ist es aber nicht mehr so einfach, die Pressevisionen für neue Filme zu verfolgen. Was ich noch mache, ist die Bernhard Matinée, wo ich einmal pro Monat zusammen mit Wolfram Knorr neue Filme vorstelle. Dazu alle drei Monate im Kino Razzia eine Kino-Nacht.»

Und was passiert jetzt medial mit Ihrem eigenen Buch?
Alex Oberholzer:
«Es freut mich, dass die Medien sich für das Thema interessieren. Der ‚Blick‘ hat sich bereits gemeldet. TeleZüri hat mich für ein ‚TalkTäglich‘ eingeladen. Es wird in Zürich eine Lesung im Kaufleuten geben (21.8.) sowie im Sphères (30.8.), später auch in Affoltern am Albis, in Luzern, Bern, St. Gallen. Und es werden immer mehr. Dieses Interesse ehrt und freut mich enorm.»

Das Endresultat interessiert. War es schwierig, einen Verlag zu finden? Sie haben früher auch schon als Korrektor bei Diogenes gearbeitet.
Oberholzer:
«Ja, und ich habe nach wie vor ein gutes Verhältnis zu diesem Verlag und seinem CEO Philipp Keel. Ich wagte es aber nicht, mit meinem Buch dort vorstellig zu werden. Mein Buch ist ja kein Roman, und ich wollte mit einer Anfrage bei Diogenes Philipp nicht in eine peinliche Situation hineinmanövrieren.»

Erschienen ist «Im Paradies der weissen Häubchen» beim Verlag Hier und Jetzt. Wie ist es dazu gekommen?
Alex Oberholzer:
«Ich habe es zuerst bei einem wissenschaftlichen Verlag versucht. Denen war mein Buch aber zu wenig wissenschaftlich, was auch meine Einschätzung ist. So habe ich bei einem zweiten Versuch den Verlag Hier und Jetzt angefragt. Dort hat man sich innerhalb nur einer Woche für die Aufnahme ins Programm entschieden. Die Zeit der Produktion ist beim Verlag von Bruno Meier und Denise Schmid für mich sehr konstruktiv verlaufen und ich bin auch sehr glücklich mit dem Lektorat von Rachel Camina, denn es war wichtig, dass noch jemand mit aussenstehenden und kritischen Augen über meinen Text ging.»