Unter dem Motto «Wir sind Carl Spitteler» strömten am Samstagnachmittag fast 400 Gäste ins Zürcher Volkshaus.
Auf den Tag genau vor 105 Jahren hielt der Denker und einzige Schweizer Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler seine aufsehenerregende Streitrede «Unser Schweizer Standpunkt» im Zunftsaal zur Zimmerleuten in Zürich vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft.
Man schrieb den 14. Dezember 1914. Dreieinhalb Monate davor, am 28. Juli, hatte der Erste Weltkrieg mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien begonnen. Europa war in Wallung und auch viele Schweizer waren kriegslüstern und zeigten offen ihre Sympathien für Wilhelm den Zweiten, dem letzten deutschen Kaiser und König von Preussen.
Contre cœur, aber es musste sein, sprach Carl Spitteler dem Schweizer Volk ins Gewissen. Ein sprachkultureller Graben entzweite das Land. Spitteler sprach sich vehement für eine konsequente Neutralität der Schweiz und für Volksversöhnung aus.
Mit seiner Streitrede wandte er sich gegen viele Schweizer, die den deutschen Nationalismus befürworteten und der Kriegsrhetorik verfallen waren. Der studierte Theologe appellierte an eine vernunftbetonte, neutrale Haltung der Schweiz, die den inneren Zusammenhalt des Landes stärken sollte.
Es galt also am Samstagnachmittag im Volkshaus ein dickes Brett zu bohren, um sich dem Thema «Wir sind Carl Spitteler» anzunähern. Der erste Redner, Bundespräsident Ueli Maurer, unterstrich mehrfach die immer noch aktuelle Rede Carl Spittelers. Es sei in einer direkten Demokratie eine Bürgerpflicht, sich zu äussern, sich einzumischen, wie damals Carl Spitteler.
Alle könnten Spitteler sein: Ideen von Bürgern seinen wichtiger für den Zusammenhalt als Politik und Verwaltung, sagte Maurer, der wie immer ohne Dünkel aus dem Nähkästchen plauderte und seinen ersten Kontakt zum Denker in der Sekundarschule erwähnte.
«Und ja, das Werk hat sich mir bis heute nicht ganz erschlossen», meinte er entwaffnend, wobei er nicht nur bei Nicht-Literaturwissenschaftlern Punkte sammelte.
Maurer rühmte Spittelers Mut, einzustehen, seine Bürgerpflicht wahrzunehmen, sich für die freiheitliche Schweiz einzusetzen und dabei Ruf und Einkommen aufs Spiel zu setzen. Weiter sei der Aufruf Spittelers zur Neutralität als «Aufforderung zu verstehen, Trennendes zur Seite zu schieben und das Gemeinsame ins Zentrum zu stellen».
Es folgte eine längere Rede von Wolf Linder, emeritierter Professor für Politikwissenschaft, mit dem Titel «Die Stimme der Dichter und Denker in der Politik».
Die Berner Satirikerin Stefanie Grob schoss anschliessend ein fulminantes Feuerwerk an Worten ab und jonglierte am Abgrund des Röstigrabens. Soll man noch Französisch lernen? Müssen wir das wirklich erleiden? Mit einem unglaublichen Furor und einer brillanten Kehrtwende wurde in ihrem Plädoyer klar: Gerade das ganze Leid, dass uns die Französisch-Paukerei beschert, ist ja gerade unser Gemeinsames, jede und jeder kann von seinem kleinen Leid berichten: Einheit in der Vielfalt.
Auf dem Podium diskutierten anschliessend, unter der Leitung des Publizisten und Historikers Matthias Wipf, Sarah Bütikofer, die Zürcher Politikwissenschafterin und Herausgeberin «DeFacto», Katja Gentinetta, Germanistin und Publizistin, die Genfer Ständerätin Lisa Mazzone, Hans Stöckli, Ständerat des Kantons Bern, Peter von Matt, emeritierter Professor für Deutsche Literaturwissenschaften der Uni Zürich, und der Medienwissenschaftler Matthias Zehnder.
Heute sind «Spitteler-Stimmen» ebenso nötig wie vor hundert Jahren, denn die Schweizer Gesellschaft ist vielfach gespalten, resümierte Wolf Linder in seinen Ausführungen.