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Dienstag
27.11.2012

Der Nahost-Korrespondent Ulrich Tilgner behauptete, dass in Deutschland weniger Medienfreiheit herrsche als in der Schweiz. Er machte seine brisanten Aussagen am Journalistentag in Recklinghausen auf einem Podium zum Auslandjournalismus. Für den Klein Report berichtet Roger Blum.

Mitten in der Gesprächsrunde stand ein Zuhörer auf und schimpfte ins Saalmikrofon: «Das kommt mir vor wie eine Kyffhäuser-Sitzung: Sie reden von Dingen, die 20 Jahre zurückliegen! Das klingt, wie wenn Sie tierisch Frust schieben würden.» Er reagierte damit auf Aussagen des Nahost-Korrespondenten Ulrich Tilgner, der sich darüber aufregte, dass 1985 einer seiner Beiträge bei der ARD nicht berücksichtigt wurde, weil Joschka Fischer gerade in Hessen als Umweltminister vereidigt wurde, und dass 1999 ein Beitrag aus der Sendung fiel, weil in Washington Monica Lewinsky öffentlich aussagte (es war aber in Wirklichkeit das Impeachment-Verfahren gegen Clinton im Senat).

Ulrich Tilgner äusserte sich am Journalistentag in Recklinghausen auf einer Podiumsdiskussion, die der Auslandsberichterstattung galt: «Nur berichten, wenn es knallt: Wie Krisenberichterstattung das mediale Bild des Auslandes prägt», lautete der Titel. Der Nahost-Korrespondent arbeitete lange für deutsche Fernsehsender, zuletzt für das ZDF, ist jetzt aber nur noch für das Schweizer Fernsehen tätig. Er habe mit dem ZDF gebrochen, weil er sich dort nicht getraut hätte, die gleiche Kritik an der westlichen Militärstrategie zu üben, wie er sie am Schweizer Fernsehen aussprechen könne. Die Schweiz sei nicht abhängig von den USA, während die deutsche Aussenpolitik ein Anhängsel der amerikanischen sei. Tilgner deutete an, dass im ZDF eine Kultur herrsche, die einen zur Selbstzensur zwinge.

Horst Kläuser, Radiojournalist beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) und während längerer Perioden Korrespondent in Washington und in Moskau, warf Tilgner vor, eine Verschwörungstheorie aufzubauen. Er, Kläuser, habe in seinem Sender immer alles gesagt, was er für richtig hielt. Tilgner drehte noch weiter an der Vorwurfsspirale: «Die Journaille ist zur fünften Kolonne im Krieg geworden.» Das Militär baue die Medien ganz bewusst in seine Kriegsstrategien ein. An dem Punkt pflichtete ihm Kläuser bei: Das Pentagon setze viele Mittel ein, um die Medien in seinem Sinn zu steuern.

Das Gespräch drehte sich eigentlich um die Frage: Was ist überhaupt Auslandjournalismus? Und wozu braucht es Auslandjournalismus? Ulrich Tilgner sagte, er würde sich niemals als Krisenberichterstatter bezeichnen und erst recht kritisiere er den Begriff «Kriegsberichterstatter». Es gebe ja auch keine Friedensberichterstatter. Er wolle in seiner Region Weltpolitik erleben und die Hintergründe erkunden.

Horst Kläuser ergänzte, dass gute Auslandberichterstattung auch Inlandberichterstattung sei. Das Wissen darüber, was sich anderswo entwickle, helfe, besser zu verstehen, was bei uns vorgeht. Dem pflichtete Tibet Sinha bei. Er ist Redaktionsleiter beim Westdeutschen Rundfunk und war selber im Ausland tätig. Sinha fand, man betreibe in Deutschland viel zu viel Nabelschau.

Die Diskutanten waren uneins, ob das Prinzip richtig sei, dass Auslandkorrespondenten nach etwa fünf Jahren ihren Einsatzort wechseln. Sinha argumentierte, wer sich zu lange in einem Land aufhalte, verliere den Blick für das Alltägliche, Normale; deshalb müsse der Wechsel sein. Kläuser kritisierte dieses Prinzip. Er habe sechs Jahre lang in Russland gelebt und das Land immer noch nicht richtig verstanden. Ähnlich sah es Tilgner. Er wies darauf hin, dass der Orient ein Mehrfaches so gross sei wie Europa. Da habe man auch nach langer Zeit noch nicht alles wirklich begriffen.

Ein weiterer, ebenfalls klassischer Kritikpunkt waren die Auswahlkriterien der Redaktionen. Horst Kläuser warf den Zentralen vor, dass für sie ein Beitrag, den ein Korrespondent anbiete, solange keine Geschichte sei, als nicht eine Nachrichtenagentur das Thema aufgegriffen habe. Die Moderatorin Andrea Hansen, ebenfalls vom Westdeutschen Rundfunk, zitierte einen Chef vom Dienst, der einmal gesagt habe, der Wert einer Nachricht messe sich an der Formel: Unglück mal Entfernung in Kilometern dividiert durch Anzahl der beteiligten Deutschen.

Die Runde war sich einig, dass es vor allem Hintergrundberichte aus dem Ausland schwer haben, ins Programm aufgenommen zu werden. Ulrich Tilgner hielt dem allerdings entgegen: «In der Schweiz ist das Interesse höher, weil zehn Prozent der Schweizer eigene Auslanderfahrung haben.» Nochmals war er sehr eigenwillig an der Tagung, die von der Sektion Nordrhein-Westfalen des Deutschen Journalistenverbandes durchgeführt worden war.