Oliver Meiler berichtet für «Tages-Anzeiger» und «Süddeutsche Zeitung» aus Italien. Aus seinen Recherchen zu den Verstrickungen der Mafia mit der Lebensmittelproduktion hat er ein Buch gemacht.
‘Ndrangheta und Camorra. Und darüber, wie er seine Korrespondenten-Rolle versteht in einem Land, das für die meisten Zeitungsleser nördlich des Gotthards ein Sehnsuchtsort darstellt.
In Ihrem neuen Buch «Agromafia» schreiben Sie über die Verstrickungen der Mafia mit der italienischen Lebensmittelindustrie. Können Sie in wenigen Sätzen erklären, was Leserinnen und Leser in Ihrem Buch erwartet?
Oliver Meiler: «Das Buch erzählt, wie es kommen konnte, dass sich die Mafia zu uns an den Tisch gesetzt hat – buchstäblich: Sie hat sich auf unsere Teller geschlichen. Die italienische Mafia ist uns ja bekannt für ihr Geschäft mit Drogen, für Erpressung und Gewalt. Weniger bekannt ist, dass Cosa Nostra, ‘Ndrangheta und Camorra neu auch am Geschäft mit italienischen Köstlichkeiten verdienen, mit Gemüse, Olivenöl und Mozzarella – jedes Jahr sind es ein paar Milliarden Euro mehr. Man nennt sie Agromafia. In manchen Fällen kontrolliert sie die gesamte Kette: vom Acker über den Markt bis auf den Teller. Die Tomate ist für die Mafia gewissermassen zum neuen Kokain geworden ist.»
Wie sind Sie auf das Thema aufmerksam geworden? Und wie kam es, dass Sie ein Buch daraus gemacht haben?
Meiler: «Seit etwa zehn Jahren kommt in Italien jeden Februar ein Rapport heraus, den der grosse Bauernverband Coldiretti mit dem ‚Observatorium zur Kriminalität in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelindustrie‘ zusammenstellt. Er lässt immer kurz aufhorchen, die italienischen Medien berichten über das Phänomen der Agromafia, man ist empört, dann vergisst man wieder. Mich hat die Schnittstelle immer interessiert. Vor zwei Jahren schlug mir dann die ‚Süddeutsche Zeitung‘ ein sogenanntes ‚Buch Zwei‘ zum Thema vor, die längste Textstrecke in der Wochenendausgabe, etwa 35 000 Zeichen. Das Stück erschien auch im ‚Magazin‘ des ‚Tages-Anzeigers‘. Es löste viele Reaktionen aus. Der dtv-Verlag fragte mich dann, ob ich daraus nicht ein Buch machen wollte, so kam das. Ich habe mehr als ein Jahr dafür recherchiert.»
Über die Mafia zu recherchieren, ist vermutlich kein Zuckerschlecken. Wie sind Sie vorgegangen?
Oliver Meiler: «Recherchen zur Mafia sind natürlich einigermassen komplex, man redet mit ihren Opfern, mit bewundernswert mutigen Bürgern, vertieft sich in Prozessakten, redet mit Richtern und Staatsanwälten. Ich hatte das Privileg, mich mit einer Reihe von sehr engagierten und renommierten Mafiajägern treffen zu können: unter anderem mit Gian Carlo Caselli, Nicola Gratteri, Cesare Sirignano und Catello Maresca. Sie zeigten mir auf, wie alles zusammenhängt, wie es manchmal sogar vorkommt, dass sich die Kartelle, die sich sonst aufs Blut bekämpfen, für gewisse Geschäfte zusammentun. Und warum die Mafia so eng mit der Erde verbunden ist, mit dem Boden und seinen Früchten. Das ist ihre ursprüngliche Welt, darin finden sie nun ein neues Business. Auch in der Pandemie. Nur ein Beispiel: Einer der Staatsanwälte spielte mir in seinem Büro ein abgehörtes Telefongespräch vor, darin legten sizilianische Bosse gerade den Marktpreis der Melone fest.»
Seit sechs Jahren sind Sie Italien-Korrespondent für den «Tages-Anzeiger» und die «Süddeutsche Zeitung» (SZ). Schon vorher waren Sie in Frankreich, Spanien und in Singapur stationiert. Was reizt Sie an der Arbeit als Korrespondent?
Meiler: «Alles: das tägliche Lernen und Eintauchen in eine Kultur, die Begegnungen mit den Menschen, die Geschichten, die Vibrationen eines Landes. Als Korrespondent hat man eine tolle Beobachterposition. Ich liebe es, Geschichten zu erzählen, möglichst breit und in allen möglichen Genres, damit ein Bild des Landes entstehen kann.»
Als Doppelkorrespondent für «Tagi» und SZ müssen Sie den Ansprüchen zweier Redaktionen genügen. Wie bringen Sie das unter einen Hut?
Oliver Meiler: «Das ist tatsächlich eine Herausforderung, aber auch eine schöne, der Kommunikationsaufwand ist allerdings ziemlich hoch. Gut, dass ich die Kollegen in Zürich und München kenne – ich war schon in Südostasien für beide Zeitungen tätig, das hilft. Ich weiss, wie jeder tickt. Wenn man so lange draussen ist, ist das besonders wichtig. Man entwickelt ein Sensorium für die Schwingungen, übers Telefon. Die Formate und das Temperament der Redaktionen sind zwar unterschiedlich, manchmal kürzt man dann halt oder verlängert einen Text für die Bedürfnisse der einen oder anderen. Manchmal erscheint ein Text auch nur in einem der beiden Blätter, oder nur auf einem Kanal.»
Was halten Sie ganz generell von der Italien-Berichterstattung in deutschsprachigen Medien?
Meiler: «Italien interessiert, weil viele im Norden Italien mögen, die meisten als Sehnsuchtsort. Das schlägt sich auch in den Medien nieder: Italien ist sehr präsent, mehr noch als Frankreich zum Beispiel, wie mir scheint. Italien bietet eben auch besonders viele Geschichten, eine barocke Politik, ein geistreiches und kreatives Volk. Da besteht ab und zu die Gefahr, dass das Land in der Berichterstattung klischiert wird, in beide Richtungen: romantisiert oder diabolisiert, je nachdem. Ich versuche, beidem zu wehren.»
Anfang 2020 haben Sie den Coronavirus-Ausbruch in Italien aus nächster Nähe miterlebt – noch bevor sich das Virus in der Schweiz verbreitete. Was blieb Ihnen am deutlichsten in Erinnerung?
Oliver Meiler: «Ich war gerade in einer kurzen Auszeit für das Buch, als Codogno und einige andere Orte in der Lombardei geschlossen wurden, rote Gefahrenzone, totaler Lockdown, die erste Gegend in Europa. Ich habe mein Minisabbatical abgebrochen und dann nur noch über Corona berichtet, ohne Unterbruch, monatelang, wie in einem Tunnel. Immer war Italien dramatisch voraus im Vergleich mit dem Rest Europas, und ich sollte gewissermassen durchgehend berichten. Bergamo, die Armeecamions, die die Leichen abholten, die Schwere, die sich auf das Land legte. Diese Bilder vergisst man nicht mehr. Sie sind wohl auch der Grund, warum die Italiener ganz anders auf die ersten Lockdowns und Shutdowns reagiert haben als etwa die Schweizer. Irgendwie solidarischer und erwachsener. Aber das ist nur mein subjektiver, ganz privater Eindruck.»