Judith Wittwer hat die Chefredaktion beim «Tages-Anzeiger» in einer turbulenten Zeit übernommen: Nach nicht ganz 100 Tagen in ihrer neuen Funktion zieht Wittwer im Interview mit dem Klein Report eine erste Bilanz und erklärt, wie die Zusammenarbeit mit der neuen Tamedia-Mantelredaktion bislang angelaufen ist.
Wie waren die ersten Monate für Sie als Chefredaktorin?
Judith Wittwer: «Es war ein intensiver, aber guter Start. Die Kooperation mit der neuen Redaktion Tamedia, die auch den überregionalen Mantel für die `Berner Zeitung`, den `Bund` und die ZRZ-Medien liefert, funktioniert. Unsere Leserinnen und Leser halten immer noch ihren `Tagi` in den Händen - mit tollen Recherchen, klugen Hintergründen, Analysen und einem guten Züri-Teil.»
...und wie beurteilen Sie den Start auf persönlicher Ebene?
Wittwer: «Meine Arbeit ist noch vielseitiger geworden. Neben den vielen Aufgaben, die ich bereits als Mitglied der Chefredaktion zusätzlich zum Publizistischen übernommen habe - vom Personellen übers Budget bis zu strategischen Projekten -, bin ich neu auch wieder viel mehr ausserhalb der Redaktion unterwegs. Ich vertrete den `Tagi` auf Podien, Veranstaltungen, führe Gespräche. Das ist sehr bereichernd.»
Sind Sie als Chefredaktorin wieder mehr als Journalistin oder doch in erster Linie als Redaktions-Managerin tätig?
Wittwer: «Ich hoffe doch mehr als Journalistin. Der Chefredaktor hat heute in der Tat aber eine andere Rolle als noch vor 20 Jahren mit vielen nicht-publizistischen Aufgaben. Die Zeit zum Schreiben muss man sich bewusst nehmen - und das würde ich gerne noch öfter tun. Das Wichtigste für einen Chefredaktor oder eine Chefredaktorin sind aber die Mitarbeitenden - ohne ihr Engagement und Feuer fehlen die guten Ideen, die starken Geschichten. Zu einer kreativen, konstruktiven Atmosphäre auf der Redaktion beizutragen, ist deshalb eine ebenso wichtige wie anspruchsvolle Aufgabe.»
Wie lässt sich konkret die Atmosphäre auf der Redaktion beeinflussen oder verbessern?
Wittwer: «Die Medienbranche ist im Umbruch, auch unser Verlagshaus versucht mit Kooperationen und anderen Massnahmen, die Einnahmenrückgänge bei der Werbung zu kompensieren. Solche Veränderungen verunsichern und beeinträchtigen das Redaktionsklima. Das kann man auch mit viel gutem Willen nicht wegdiskutieren. Man kann sich der Diskussion aber stellen, zuhören, sich einsetzen und konstruktives Feedback geben. Das versuche ich.»
«Tagi»-Redaktorinnen und Redaktoren gelten als starke Einzelpersönlichkeiten, die nicht einfach führbar sind. Wie kann man direkt auf sie einwirken?
Wittwer: «Das Wort `einwirken` gefällt mir nicht, begegne ich den Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion doch mit Respekt und achte ihre - zuweilen auch ganz andere - Meinung. Als Zeitung sind wir auf Journalistinnen und Journalisten angewiesen, die kritisch sind und die auch meine Arbeit kritisch begleiten. Insofern ist es wichtig, dass sie sich nicht einfach alles sagen lassen, sondern durchaus auch zu mir kommen, wenn sie etwas anders sehen. Diese Offenheit schätze ich. Abgesehen davon ist dieser gegenseitige Respekt auf der Redaktion stets vorhanden.»
Müssen Sie manchmal auch durchgreifen?
Judith Wittwer: «Auch da störe ich mich am Ausdruck. Durchgreifen ist ein unpassendes Wort. Klar scheue ich Entscheidungen nicht, auch wenn sie nicht immer auf breite Akzeptanz stossen. In der Regel höre ich mir vorher aber gerne die verschiedenen Stimmen an und wäge die Argumente ab.»
Haben Sie selber Bezugspersonen, die Ihnen beratend zur Seite stehen?
Wittwer: «Nachdem ich beim `Tagi` bereits das Volontariat gemacht habe, hoffe ich doch sehr, dass ich über all die Jahre gute und ehrliche Kolleginnen und Kollegen gewonnen habe. Mit einigen von ihnen stehe ich täglich in engem Kontakt. Auch zu Arthur Rutishauser, der die Redaktion Tamedia leitet, habe ich einen guten Draht, ebenso spüre ich die Unterstützung unseres Verlegers.»
Wie intensiv läuft eigentlich der tägliche Austausch mit der Tamedia-Redaktion?
Wittwer: «Einen grossen Teil der Inhalte im überregionalen Bereich beziehen wir vom Mantel. Es finden täglich Konferenzen statt, an denen alle Zeitungen eingebunden sind. Die Redaktion Tamedia stellt ihr Mantelangebot vor. Sie macht ein Angebot für einen `Mantel light` und auch ein etwas grösseres Angebot für die urbanen Titel wie den `Tagi` oder den `Bund`. Die Verantwortung, wie der `Tages-Anzeiger` am Ende in Druck geht, liegt aber bei mir.»
Daneben gibt es seit 2017 eine Kooperation mit der «Süddeutschen Zeitung». Wie muss man sich das im Tagesgeschäft vorstellen?
Wittwer: «Wir pflegen einen sehr offenen Austausch, ohne zusätzliche Konferenzen. Wir wissen, was in München geplant ist und stimmen das Programm mit unseren Bedürfnissen ab, das gilt auch umgekehrt. Vergangene Woche interessierten sich die Kollegen der `Süddeutschen` beispielsweise für unsere Berichterstattung im Fall Rupperswil. Da wir mit mehreren Gerichtsreportern und auch einem Video-Team vor Ort waren, war unsere Berichterstattung relativ umfassend.»
Neben dem Print-Produkt gehört ja auch ein Online-Angebot zum «Tages-Anzeiger». Wo liegt Ihre Priorität?
Wittwer: «Wir haben Online seit bald einem Jahr eine `Abo+-Strategie` mit einer sehr erfreulichen Entwicklung. Unsere Leserinnen und Leser sind bereit, für gute Recherchen, gute Reportagen und guten Service zu bezahlen. Insofern verfolgen Print und Online das gleiche Ziel, nämlich guten Journalismus zu machen und diesen an die Leserin und an den Leser zu bringen.»
Im Online-Bereich gibt es neue Möglichkeiten, was die Erzählformen von Geschichten betrifft. Was planen Sie in diesem Bereich?
Wittwer: «Wir haben in den letzten Jahren ein interaktives Infografik-Team aufgebaut, Interactive Designer und Video-Journalisten eingestellt und Datenjournalisten ausgebildet. Heute heben wir ganze Datenschätze aus und visualisieren sie. Kürzlich analysierte unser Datenjournalist Barnaby Skinner etwa unsere Online-Kommentare - eine überaus interessante, wenn auch ernüchternde Auswertung.»
Zu guter Letzt: Was war Ihr bisher schönstes Erlebnis als Chefredaktorin des «Tages-Anzeigers»?
Judith Wittwer: «Es fällt mir schwer, ein einzelnes Ereignis herauszupicken. Froh bin ich sicherlich, dass der Start der neuen Redaktion Tamedia einwandfrei geklappt hat und die Zusammenarbeit funktioniert. Daneben glänzten wir publizistisch in den letzten Monaten mit mehreren guten Recherchen, etwa zu den Zürcher Stadtratswahlen, der Geheimarmee P-26 oder dem Fall Broulis. Und speziell freut mich, dass unsere neue `Seite 3` sich innerhalb weniger Wochen mit vielen tollen Geschichten ein eigenständiges Profil erarbeitet hat, das intern und extern auf positive Resonanz stösst. Wir bleiben dran.»