Die Enthüllungen der «Suisse Secrets» haben weltweit ein grosses Echo ausgelöst. Alle wichtigsten ausländischen Medien haben über Gelder von Autokraten, Kriegsverbrechern und Drogenhändlern bei der Credit Suisse berichtet.
Die «Suisse Secrets» basierten auf gemeinsamen Recherchen von 48 internationalen Medienhäusern. Schweizer Medien konnten sich nicht daran beteiligen. Medienschaffende machen sich in der Schweiz strafbar, wenn sie über Enthüllungen aufgrund gestohlener oder geleakter Bankdaten berichten. Sie riskieren bis zu drei Jahre Gefängnis. Inzwischen ist in der Politik Bewegung in diese Sache gekommen.
Chefredaktorin Ursula Klein hat für den Klein Report mehr über die Hintergründe dieser Recherchen wissen wollen und dazu Denis Masmejan befragt, den Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen (RSF) Schweiz.
Wie ist der aktuelle Stand der Dinge aus Sicht von Reportern ohne Grenzen Schweiz?
Denis Masmejan: «Artikel 47 des Bankengesetzes stellt in seiner 2015 in Kraft getretenen Fassung eine ernsthafte Bedrohung für die Pressefreiheit dar. Laut den damaligen Erklärungen von Nationalrat Andrea Caroni und Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf im Nationalrat sollte dieser Artikel nämlich auch auf die Medien Anwendung finden. Nun wissen alle Juristen, dass solche Aussagen grundsätzlich für die Gerichte bindend sind, wenn es darum geht, den ‘Willen des Gesetzgebers’ und dadurch die Reichweite einer Gesetzesbestimmung zu ermitteln. Wir fordern daher, dass dieser Artikel so geändert wird, dass die Medien Bankdaten offenlegen können, wenn dies durch das Recht der Öffentlichkeit auf Wahrheit gerechtfertigt ist und selbst dann, wenn diese Daten aus illegalen Quellen stammen.»
Es kann der Eindruck entstehen, die Staatsanwaltschaft Zürich reagiere wegen des Zürcher Bankenplatzes sensibler oder gar härter, wenn es um Fragen des Bankgeheimnisses geht. Wie ist Ihr Eindruck und Ihre Einschätzung als Jurist und Romand diesbezüglich?
Denis Masmejan: «Das Bundesrecht sollte überall in gleicher Weise gelten, doch kann es zwischen den Kantonen zu Unterschieden in der Einschätzung und bei den Prioritäten kommen. Soweit mir bekannt ist, hat bisher nur die Zürcher Staatsanwaltschaft diesen Artikel gegen Journalisten verwendet. Ich kann jedoch nicht sagen, ob dies auf eine besondere Sensibilität der Zürcher Seite zurückzuführen ist oder ob es einfach daran liegt, dass die undichten Stellen bei Banken in Zürich aufgetreten sind. Abgesehen davon hat der Genfer Finanzplatz mit der Falciani-Affäre in den 2010er Jahren, die die Bank HSBC betraf, ebenfalls einen riesigen ‘Leak’ erlebt. Ich denke vor allem, dass die grosse Herausforderung darin besteht, klar zwischen dem Diebstahl von Bankdaten selbst und der möglichen Verwendung dieser Daten durch die Medien im Rahmen einer investigativen Arbeit im Dienst der Enthüllung der Wahrheit zu unterscheiden. Rechtlich gesehen war es ein grober Fehler des Gesetzgebers, diese beiden Aspekte so zu behandeln, als wären sie ein einziger. Aus einem ganz einfachen Grund: Es gibt keine Bestimmung in der Verfassung, die Bankdatendiebe schützt, während es eine Bestimmung gibt, die die Pressefreiheit schützt. Und das ändert alles: Man kann einen Journalisten, der gestohlene Bankdaten verwendet, nicht wie den Dieb selbst behandeln.»
Vor Zürcher Gerichten sind noch Verfahren hängig, bei denen Artikel 47 des Bankengesetzes zum Bankgeheimnis zum Tragen kommen könnte. Was unternimmt Reporter ohne Grenzen Schweiz in diesen Fällen?
Denis Masmejan: «Wir sind der Meinung, dass die Justizbehörden die Verfahren gegen Journalisten, die auf der Grundlage von Artikel 47 des Bankengesetzes eingeleitet wurden, einstellen oder zurückziehen sollten. Wir erinnern daran, dass jede Behörde in der Schweiz bei ihren Entscheidungen die in der Bundesverfassung und in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierte Pressefreiheit berücksichtigen muss. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geht hervor, dass es den Medien freistehen muss, Informationen zu veröffentlichen, die zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitragen, sofern sie wahrheitsgetreu sind, die Journalisten ihre Berufsregeln einhalten und kein übergeordnetes und unbestreitbares Interesse (‘in einer demokratischen Gesellschaft notwendig’, heisst es in der Europäischen Konvention) es rechtfertigt, diese Informationen der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Ich bin der festen Überzeugung, dass die im Rahmen der Operation Suisse Secrets veröffentlichten Informationen diese Bedingungen erfüllen.»
Nach der Veröffentlichung der Suisse Secrets zur Grossbank Crédit Suisse reagierten viele Politikerinnen und Politiker sehr heftig. Viele waren aber dabei, als 2015 bei der Verschärfung des Artikels 47 der traditionelle Kreis von Mitwissern aus den Bankinstituten ausgeweitet wurde. Was kann Reporter ohne Grenzen auf politischer Ebene ganz aktuell machen?
Denis Masmejan: «Wir begrüssen mit grosser Befriedigung die Ankündigung eines parlamentarischen Vorstosses, der von der SP in der laufenden Session im Parlament eingereicht werden soll, um eine Anpassung von Artikel 47 zu fordern, die der Pressefreiheit Rechnung tragen soll. Wir sind zu diesem Zeitpunkt einigermassen optimistisch, da wir den Eindruck haben, dass das Problem, das dieser Artikel für den Journalismus darstellt, erkannt wurde. Wir sind der Meinung, dass die Links-Rechts-Spaltung in dieser Frage überwunden werden muss. Wir werden jedoch die Details einer möglichen Überarbeitung von Artikel 47 im Auge behalten. Ich misstraue der Tendenz des Gesetzgebers, schwierige Fragen durch schwammige Formulierungen aus dem Weg zu räumen, die den Richtern praktisch freie Hand lassen, zu entscheiden, was sie verfolgen und was sie tolerieren wollen. Das Strafgesetz muss präzise sein und es muss die Pressefreiheit respektieren.»
Was wünschen Sie sich ganz persönlich von den Politikerinnen und Politikern?
Denis Masmejan: «Etwas Persönliches? Bevor sie entscheiden, sollten sie den Film ‘Pentagon Papers’ von Steven Spielberg anschauen und darüber nachdenken, welche Rolle die Herausgeberin der 'Washington Post', Katharine Graham (gespielt von Meryl Streep), bei der Veröffentlichung geheimer Militärdokumente über den Vietnamkrieg gespielt hat. Manche hielten sie für eine Närrin, aber sie haben sich geirrt. Ihre Überzeugungen waren unerschütterlich, sogar stärker als die Freundschaften, die sie mit einigen der einflussreichsten Personen in der US-Regierung unterhielt: Sie war der Meinung, dass die Bürger trotz allem ein Recht auf Wissen haben. Im Angesicht der Geschichte ist sie diejenige, die Recht hatte.»
Wie soll aus Ihrer Sicht die Justiz zum jetzigen Zeitpunkt und in der aktuellen Situation bezüglich «Suisse Secrets» verfahren?
Denis Masmejan: «Wir hoffen, dass die Zürcher Staatsanwaltschaft so weise ist, auf die Verfolgung der Journalisten zu verzichten, die den ‘Leak’ in zahlreichen Medien im Ausland veröffentlicht haben. Die Richter müssen auf jeden Fall die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention berücksichtigen. Auf dieser Grundlage sollten sie zu dem Schluss kommen, dass eine Strafverfolgung nicht gerechtfertigt ist. Eine gegenteilige Lösung wird dem Ruf des Finanzplatzes keinen Gefallen tun, da dies erneut auf Unverständnis stossen wird. Zudem wird die Schweizer Justiz kaum auf die justizielle Zusammenarbeit mit ausländischen Behörden zählen können: Das Kriterium der doppelten Strafbarkeit ist nicht erfüllt.»
Von Seiten der Journalistinnen und Journalisten von Tamedia hiess es, wegen des Artikels 47 hätte man sich nicht an diesen Recherchen beteiligen können. Hätte man nicht auch andere Wege gefunden, wie zum Beispiel der legendäre Fall um den ehemaligen SRF-Chefredaktor Ueli Haldimann, der wegen einer versteckten Kamera bei der Recherche in der Schweiz zwar verurteilt, in Strassburg vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aber freigesprochen wurde. Wie schätzen Sie das persönlich ein?
Denis Masmejan: «Ein erster wichtiger Punkt: Ich bin nicht hier, um den Journalisten Mut beizubringen, um ihnen zu sagen, dass sie nur hätten veröffentlichen müssen, und dass dies zu einem schönen Prozess geführt hätte, bei dem sie sich auf die Pressefreiheit hätten berufen und bis nach Strassburg hätten gehen können. Man darf das Ziel nicht verfehlen: Das eigentliche Problem ist nicht, dass Tamedia aufgegeben hat, sondern dass das Parlament einen Gesetzesartikel verabschiedet hat, der gegen die Pressefreiheit verstösst. Und diesen Artikel gilt es nun zu ändern. Hinzu kommt ein spezifisch juristischer Aspekt, der nicht leicht zu erklären ist. Die genaue Tragweite von Artikel 47 des Bankengesetzes für Journalisten ist noch nicht bekannt, weil es noch keine Rechtsprechung gibt. Aber diese Bestimmung ist so formuliert, dass es ausreichen könnte, mit gestohlenen Daten zu arbeiten, sie an andere Abteilungen innerhalb der Redaktion weiterzuleiten, um sich selbst strafbar zu machen, und um alle Personen, die mit diesen Daten gearbeitet haben, ihrerseits strafbar zu machen, noch bevor ihr Inhalt veröffentlicht wird. Diese Hypothese ist nicht auszuschliessen und stellt ein grosses Risiko für zahlreiche Mitarbeiter innerhalb eines Mediums dar, die übrigens nicht unbedingt Journalisten sind (Verwaltungspersonal, Informatiker etc.). Sicher ist jedenfalls, dass Artikel 47 kein klassisches Pressedelikt ist: Er stellt auch die einfache Verwendung gestohlener Daten unter Strafe und nicht nur deren Veröffentlichung. Aus Sicht der Pressefreiheit ist das völlig pervers.»