Ein GAU für den «Spiegel»: Redaktor Claas Relotius (33) hat im grösseren Stil seine Geschichten manipuliert. Das Hamburger Nachrichtenmagazin machte den Fall am Mittwoch selber publik und beauftragte eine Kommission aus internen und externen Personen, den Fälschungen nachzugehen.
Am Mittwochmittag platzte die Bombe, als die «Spiegel»-Chefredaktion die Mitarbeitenden informierte. Ein Reporter habe im grossen Umfang eigene Geschichten manipuliert. Kurz darauf informierte der «Spiegel» nach aussen und Ullrich Fichtner, designiertes Mitglied der Chefredaktion, stellte eigene Recherchen zum Fall Claas Relotius ins Netz.
Relotius, der seit anderthalb Jahren als Redaktor festangestellt war, hat die Fälschungen zugegeben und ein umfassendes Geständnis abgelegt; den «Spiegel» hat er bereits verlassen.
Unter dem Titel «Die Antworten auf die wichtigsten Fragen» schreibt das Magazin darüber «Was ist passiert?», «Wie ist der Betrug herausgekommen»?, «Wie hat Relotius gefälscht?», «Welche und wie viele Texte sind betroffen?», «Sind auch andere Redaktionen betroffen?» und «Wie reagiert der `Spiegel`?».
Knapp 60 Artikel veröffentlichte Claas Relotius beim «Spiegel» in den vergangenen Jahren. «In mehreren Fällen hat er eingeräumt, Geschichten erfunden oder Fakten verzerrt zu haben», heisst es.
Nach der Veröffentlichung des Textes «Jaegers Grenze» im November 2018 gab es erste Verdachtsmomente. Es war eine Reportage über eine US-Bürgerwehr an der Grenze zwischen Mexiko und den USA. «Reporterkollege Juan Moreno, der diese Geschichte zusammen mit Relotius für den `Spiegel` recherchierte, wurde misstrauisch», so das Magazin. «Er glaubte an seine Fakten, recherchierte immer weiter. Er meldete dem `Spiegel` seine Bedenken.»
Und weiter: «Leicht war das nicht für ihn. Anfangs rannte er gegen Wände wie ein Whistleblower, dem nicht geglaubt wird. Aber er liess nicht locker und nutzte eine Recherchereise in anderer Sache in die USA, um Material gegen Relotius zu sammeln - und um sich selbst zu schützen. Denn auch sein Name steht über der zweifelhaften Geschichte.»
Nach anfänglichem Leugnen habe Claas Relotius Ende letzter Woche gestanden. «Es stellte sich heraus, dass er ganze Passagen frei erfunden hatte, nicht nur in der Geschichte `Jaegers Grenze`, sondern in einer Vielzahl von Texten.» Seinen Angaben zufolge sind mindestens 14 betroffen und zumindest in Teilen gefälscht.
Relotius habe mit Vorsatz, methodisch und hoher krimineller Energie getäuscht. «Er hat beispielsweise viele der Protagonisten nie getroffen oder gesprochen, von denen er erzählt und die er zitiert.» Stattdessen hätten sich seine Schilderungen seinen Angaben zufolge unter anderem auf andere Medien und Filmaufnahmen gestützt. So seien Charakter-Collagen real existierender Figuren entstanden, denen Claas Relotius zusätzlich eine fiktive Biografie andichtete. Ausserdem habe der Journalist Dialoge und Zitate erfunden.
Hart ist auch die Tatsache, dass zu den betroffenen Texten grosse Erzählungen, die für Journalistenpreise nominiert wurden oder ausgezeichnet worden sind, gehören. Zum Beispiel: «Die letzte Zeugin» - über eine Amerikanerin, die angeblich als Zeugin zu Hinrichtungen fährt. «Löwenjungen» - über zwei irakische Kinder, die vom IS verschleppt und umerzogen worden sein sollen. Und «Nummer 440» - über einen vermeintlichen Gefangenen in Guantanamo.
Da Claas Relotius auch für andere Redaktionen als freier Mitarbeiter gearbeitet hat, könnten unter anderem auch Schweizer Medientitel und weitere deutsche Medien betroffen sein.