Wer hat in der RTS-Belästigungsaffäre, die unter anderem als «Rochebin-Gate» im April bekannt wurde, was gewusst? Wer hätte eingreifen müssen? Wer trägt Verantwortung?
Bereits vor diesem medialen Tsunami lagen verschiedene Mobbing-Vorwürfe innerhalb des Westschweizer Fernsehens (RTS) auf dem Tisch. Im Fokus steht der heutige SRG-Generaldirektor und damalige RTS-Chef Gilles Marchand. Die SRG mauert, Untersuchungen werden ausgeklammert.
Erst durch den externen Druck begann man bei der in Nöten geratenen SRG nun mit einer zähen Untersuchung.
Der SRG-Verwaltungsrat hat an seiner Sitzung vom Mittwoch nun «25 konkrete Massnahmen zur Verbesserung des Schutzes der Integrität der Mitarbeitenden beschlossen». Diese seien auf Basis der Ergebnisse der drei Untersuchungs- und Analyseberichte entwickelt worden, die im November 2020 in Auftrag gegeben worden sind, wie die SRG-Kommunikation am Donnerstag in einer episch langen Mitteilung schreibt und den Auslöser des Tsunamis, die Zeitung «Le Temps», nur als «französischsprachige Tageszeitung» betitelt. Ein Rechercheteam von «Le Temps» hatte Vorwürfe der sexuellen Belästigung bei RTS, die zum Abgang von Starmoderator Darius Rochebin geführt hatten, publiziert.
Eine Arbeitsgruppe nach der anderen ging bei der SRG danach an den Start. Die Oberaufsicht über die drei Untersuchungen hat SRG-Verwaltungsrätin Ursula Gut-Winterberger (FDP).
Unter dem Vorsitz der ehemaligen Regierungsrätin des Kantons Zürich sind die drei Untersuchungen zusammengeführt und mit einem Massnahmenkatalog dem Verwaltungsrat der SRG vorgelegt worden. In dieser «nationalen Arbeitsgruppe», wie sie heisst, sitzen Vertreter des Verwaltungsrates, der Geschäftsleitung, der Gewerkschaft SSM sowie die Vereinigung der SRG-Kader.
Der Schlussbericht der internen Revision (Untersuchung 1), die den Zeitraum November 2020 bis 18. Juni 2021 erfasst, ist mit allen Anhängen 35 Seiten lang und hat es in sich und ist erschütternd.
Die Ausgangslage und der Auftrag: «Gemäss Recherchen der Zeitung ‚Le Temps‘ gab es bei RTS Verletzungen der persönlichen Integrität mittels sexueller Belästigung. Teilweise wurden diese sexuellen Übergriffe innerhalb von RTS zwar gemeldet, aber es wurden kaum Sanktionen ergriffen, so der Vorwurf in ‚Le Temps‘».
Das zeigt nun auch der vorliegende Bericht mit ersten Praxisfällen. Die Fälle stammen aus den unterschiedlichen SRG-Unternehmenseinheiten. Sie seien nicht nur älteren Datums, sondern stammen auch aus den letzten Jahren und der jüngsten Zeit.
«Häufig werden einzelne und einmalige Vorkommnisse beklagt, teils handelt es sich um Wiederholungen, die sich auch über eine längere Zeit erstreckt haben können», so die Analyse. Es seien insgesamt weit mehr Meldungen von Frauen als von Männern erfolgt, wobei in den letzten Jahren das Geschlechterverhältnis bei den Fällen der Groupe de Médiation ausgeglichener war.
Neben den Fällen zur sexuellen Belästigung wurden auch Beschwerden zu Mobbing, anderen Diskriminierungen und allgemeinen Konflikten am Arbeitsplatz aufgeführt.
«Eine Mehrheit betreffen Belästigungen durch Vorgesetzte; häufig kommt es aber auch zu Belästigungen unter Mitarbeitenden. Wiederholt waren die Betroffenen Auszubildende», schreiben die Autoren über die betroffenen SRG-Mitarbeitenden.
Und: Viele der betroffenen Angestellten fühlten sich von den Personen, an die sie sich wandten, wie Vorgesetzte und HR-Verantwortliche, nicht ernst genommen, nicht genügend unterstützt, allein gelassen. Sie hätten kein Vertrauen in Vorgesetzte und die Personalabteilungen, um sich an sie zu wenden.
«Das zuständige HR sei ‚weit weg‘, wurde als ‚parteilich‘ und die Interessen des Arbeitgebers vertretend wahrgenommen», so der Bericht. «Distanz und wenig faktische Unterstützung wurden teils auch gegenüber SSM geäussert.»
Vorgesetzte, die von Betroffenen kontaktiert wurden, haben die Fälle häufig nicht ernst genommen, die Mitarbeitende weder genügend noch empathisch oder versiert unterstützt. Oftmals hätten sie es unterlassen, ihre Vorgesetzten über die Vorfälle zu informieren. Eine weitere Schlussfolgerung des Berichts: «Allgemein entsteht der Eindruck, gemeldete Vorfälle seien als Störung des Systems wahrgenommen worden, als Ausnahmen, die die Regel bestätigen, dass sexuelle Belästigung im Unternehmen nicht vorkomme. Das Augenmerk lag daher vor allem darauf, das Problem möglichst schnell vom Tisch zu haben, zu bagatellisieren und kein Aufsehen zu erzeugen.»
Die eingeleitete Untersuchung sollt eigentlich aufzeigen, «ob das in der SRG implementierte System zum Schutz der persönlichen Integrität der Mitarbeitenden wirksam ist und welches Verbesserungspotenzial besteht», heisst es zur Ausgangslage der internen Revision. Dies beinhalte auch Vorschläge zur Verbesserung einer Unternehmenskultur, die auf Offenheit und Vertrauen basiere. Das Mandat sei auf das SRG-weite System zum Schutz der Mitarbeitenden vor sexueller Belästigung, Mobbing und Diskriminierung fokussiert.
Pikant aber: «Zudem sollen weitere analoge Fälle in den UE/OE/TG1 (ausser RTS), die vor November 2020 stattgefunden haben, untersucht und beurteilt werden», heisst es da. Wiederholung des Klein Reports: «ausser RTS».
Pikant zum Zweiten: «Der Auftrag zur Beurteilung der Fälle wurde im November 2020 vom Krisenstab der SRG an PwC erteilt. Im Dezember 2020 wurde dieses Mandat aufgrund eines Beschlusses des VR der internen Revision unterstellt.»
Unter dem Titel «Prüfungsvorgehen und -organisation» ist klar erkenntlich: Die SRG blockt mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Der vorliegende Schlussbericht habe die Erkenntnisse aus den parallellaufenden Untersuchungen 2 und 3, soweit sie die für Untersuchung 1 relevanten Fragestellungen betreffen, berücksichtigt.
Originalton: «Er konnte jedoch mangels Vorliegen der Auswertungen die abschliessenden Ergebnisse zu den eingegangenen 230 beziehungsweise 40 Meldungen zu RTS und RSI noch nicht berücksichtigen. Dies ist bedauerlich, da zu erwarten ist, dass die Folgerungen und Empfehlungen einerseits allfällige regionale Bedürfnisse und Spezifitäten ausweisen, anderseits aufgrund der grossen Zahl an Meldungen Rückschlüsse für den Handlungsbedarf über RTS und RSI hinaus aus struktureller und kultureller Sicht erlauben.»
Um wenigstens erste Erkenntnisse in Erfahrung zu bringen, führte das Untersuchungsteam 1 im Juni 2021 mit den Beauftragten für die Auswertung Besprechungen durch, damit doch noch etwas im jetzt vorliegenden Schlussbericht drin ist.
Das Prüfungsteam unter Ursula Gut-Winterberger mit Jean-Blaise von Arx, Leiter Interne Revision SRG, und Revisorin Francine Rubin, sowie der externen Expertin Claudia Kaufmann lässt nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig: «Das Team von U1 behält sich vor, in einem möglichen Nachtrag zum Schlussbericht auf die Ergebnisse der Untersuchungen zu RTS und RSI einzugehen.»
Es empfehle sich in jedem Fall, die Resultate und Empfehlungen für die Definition und Umsetzung der Massnahmen regional zu berücksichtigen und zu prüfen, welcher Handlungsbedarf sich auch überregional ergebe.
Weiter fordert das Team eine Gesamtschau der Situation. «Denn für eine kohärente und nachhaltige Kulturveränderung wird eine ganzheitliche Betrachtung benötigt, die ein Zusammenspiel zwischen Kultur, Führungsgrundsätzen, Verantwortlichkeiten, Arbeitsklima und den entsprechenden Instrumenten (Regelwerk, Anlaufstellen und Beschwerdemanagement, Schulung/Weiterbildung etc.) erlaubt.»