Diese Woche tritt mit dem Thuner René E. Gygax eine schildernde Figur des Schweizer Lokaljournalismus offiziell in den Ruhestand. Während mehr als drei Jahrzehnten hat er die Medienlandschaft der elfgrössten Schweizer Stadt entscheidend geprägt, ist er doch seit 1982 ununterbrochen Chefredaktor des «Thuner Tagblatts».
1968 bis 1974 war Gygax Chefredaktor der Fachzeitschrift «Yachting» gewesen und Pressechef des Schweizerischen Seglerverbands USY. Zudem führte er Aufträge als freier (Sport-)Journalist aus. Ab 1974 besuchte er dann den ersten Kurs überhaupt der Ringier-Journalistenschule, die ihm unter anderem je einen Stage an der Fleet Street in London und beim ORF in Wien ermöglichte. Während seiner Zeit bei Ringier war er für die Nachrichtenredaktion und die politische Redaktion von «Blick» und «Sonntagsblick» tätig, davon 1976 bis 1979 als Bundeshausredaktor. 1979 stiess er zum «Thuner Tagblatt», bei dem er erst Ressortleiter Lokales wurde und 1980 zum stellvertretenden Chefredaktoren ernannt wurde, bevor er 1982 die Chefposition übernahm.
Der mittlerweile 66-jährige René E. Gygax schilderte dem Klein Report in einem Gespräch, warum er der kleinen Lokalzeitung - und dem Lokaljournalismus an sich - trotz finanziell besseren Angeboten aus Basel und Zürich bis zu seiner Pension die Treue hielt, welche Ausgaben des «Thuner Tagblatts» ihm noch heute peinlich sind und welche Zukunftspläne er hat.
Klein Report: Statt wie viele andere Berufsgenossen den Lokaljournalismus als Sprungbrett zur vermeintlich grossen Medienkarriere zu nutzen, waren Sie in Ihren letzten 30 Arbeitsjahren Chefredaktor des «Thuner Tagblatts» und hatten zudem in den letzten zehn Jahren die Hauptverantwortung für die Schwesterzeitung «Berner Oberländer». Welche Facetten des Lokaljournalismus haben Sie entdeckt, die anderen Medienschaffenden verborgen bleiben?
René E. Gygax: Der Lokaljournalismus ist entgegen einer weit verbreiteten Meinung die anspruchsvollste Gattung im Journalismus. Man muss sich sämtliche Informationen vor Ort beschaffen und kann in der Regel auf keine Drittquellen wie Agenturen oder Internet zurückgreifen. Was Lokaljournalisten schreiben, ist von ihren Lesern überprüfbar im Gegensatz zu Nachrichten zum Beispiel über China. Oder ein anderes Beispiel: Es ist anspruchsvoller, ein Interview mit einer Mutter zu führen, deren Kind unter einen Lastwagen geraten ist, als mit einem Bundesrat. Den fragen alle das Gleiche und er sagt allen das Gleiche.
Klein Report: Was macht einen guten Chefredaktoren aus?
Gygax: Dass er die richtigen Leute um sich schart, eine professionelle und qualitätsortientierte Arbeitsweise propagiert und ein Produkt abliefert, das beim Zielpublikum und auf dem Markt ankommt. Und ab und zu mit einem Leitartikel ein Zeichen setzt.
Klein Report: Hat Sie ein Chefposten in der vermeintlichen Medienstadt Zürich nie gereizt?
Gygax: Zürich ist nicht nur die vermeintliche Medienstadt, sie ist es tatsächlich, das wissen wir auch in Thun. Das «Thuner Tagblatt» gehört ja zu genau 50 Prozent der Tamedia. Nach der Ringier-Journalistenschule und fünf Jahren «Blick/Sonntagsblick», davon die Hälfte als Bundeshausredaktor, hatte ich eine gute Ausgangslage für eine Arbeit in Zürich oder Bern. Aber die hohe Lebensqualität von Thun, mein persönliches Umfeld dort und die reizvolle Aufgabe beim TT haben mich bewogen, Thun vorzuziehen. Allerdings setzte ich mir 1982, als ich Chefredaktor wurde, eine Grenze von zehn Jahren. Als diese um waren, fragte ich mich, warum ich einen Job mutwillig wegwerfen soll, den ich gerne ausübe, und blieb. Vor rund 20 Jahren habe ich je ein Angebot für eine Chefredaktion in Basel und in Zürich aus dem gleichen Grund nicht wahrgenommen. Wobei mir klar war, dass das finanziell kein kluger Entscheid war.
Klein Report: Waren die beim «Blick» gesammelten Erfahrungen eher hilfreich oder hinderlich beim Einstieg in den Lokaljournalismus?
Gygax: Natürlich waren sie hilfreich. Der Boulevardjournalismus ist eine knallharte Schule für die Recherche, für den Umgang mit Menschen in besonderen Situationen und für das Erspüren von Themen, welche die Menschen bewegen. Viele erfolgreiche Journalisten bei verschiedensten Medien waren mal beim «Blick».
Klein Report: Trafen Sie Anfang der 80er-Jahre beim «Thuner Tagblatt» ein typisches Provinzblatt?
René E. Gygax: Der «Tägu» war eine typische kleine Lokalzeitung, damals noch mit freisinnigem Einschlag, mit Agenturmeldungen aus dem In- und Ausland und einem Lokalteil mit vielen eingesandten Meldungen.
Klein Report: Welche Änderungen haben Sie eingeleitet?
Gygax: Meine damaligen Kollegen und ich haben das TT politisch geöffnet und zur Forumszeitung umgestaltet, den Lokalteil ausgebaut und der Recherche massiv mehr Gewicht gegeben. Das hat einige Politiker und Beamte damals ziemlich erschreckt. Als ich das TT übernahm, hatte es eine Auflage von rund 13 000, jetzt gebe ich es mit rund 24 000 ab.
Klein Report: Ihre ersten Chefredaktorenjahre waren von einer grossen Wirtschaftskrise in Thun geprägt. Welches Profil gaben Sie in jener Zeit dem «Thuner Tagblatt»?
Gygax: In dieser Krisensituation rauften sich die politischen Parteien und die Sozialpartner zusammen, um Thun gemeinsam aus der Tinte zu ziehen. Das TT spielte dabei eine wichtige Rolle in der Kommunikation zwischen Behörden und Bevölkerung.
Klein Report: Zeichnete sich der per 1.1. 2001 erfolgte Zusammenschluss der Oberländer Tageszeitungen im Voraus ab?
Gygax: Ja, das war ein kontinuierlicher Prozess. Der Zusammenschluss von «Thuner Tagblatt», «Berner Oberländer» und «Oberländisches Volksblatt Interlaken» war wirtschaftlich notwendig und machte journalistisch Sinn. Parallel zum Oberländer Schulterschluss erfolgte ja auch die Kooperation mit der «Berner Zeitung» im Mantelteil. Den Krieg im Irak musste man ja nicht in Bern, Thun und Interlaken dreimal verschieden darstellen, um ein Beispiel zu nennen.
Klein Report: Wie schnell gelang es, der Bevölkerung, aber auch dem Team zu vermitteln, dass der «Tägu» immer noch ihre lokale Zeitung war?
Gygax: Das war nur ein vorübergehendes Problem. Vielen war allerdings die neue Komplettzeitung mit vier Bünden statt einem zu dick und etliche wollten nur den Lokalfaszikel abonnieren. «Der Briefkasten ist zu klein», war eine häufige Reaktion. Da konnten wir nur staunen ...!
Klein Report: Auf welche «Tägu»-Ausgabe(n) waren Sie besonders stolz?
Gygax: Es ist ziemlich schwierig, von den rund 9000 Ausgaben, die ich verantwortete, einzelne herauszuheben. Stolz war ich in der Regel, wenn wir irgendeinen Primeur lancierten oder etwas Besonderes mitbewirken konnten. Irgendwo zwischen der Rettung des Dampfers «Blümlisalp» und der Verhinderung einer überdimensionierten Schwelbrennanlage.
Klein Report: Welche Ausgabe wäre besser nie gedruckt worden?
Gygax: Die erste nach der Umstellung von der Schreibmaschine auf den Computer und auf eine neue Bildbearbeitung. Die Bilder vom Ausschiesset-Umzug 1991 (Für Nicht-Thuner: So etwas wie die Fasnacht in Basel oder der Zybelemärit in Bern) auf der Frontseite des «Thuner Tagblatts» waren alle fast schwarz. Eine Blamage erster Güte.
Klein Report: Sie haben immer sehr bissige Leitartikel verfasst. Bei welchem Thema erhielten Sie jeweils die meisten Rückmeldungen?
René E. Gygax: Bei klaren politischen Stellungnahmen. Von groben Beschimpfungen bis zu bewunderndem Lob gab es alles. Es gab Kommentare, da erhielt ich gegen hundert Reaktionen. Etwas Besseres kann einem Kommentator nicht passieren. Ich habe nie erwartet, dass man eine publizierte Meinung teilt. Aber Reaktionen auslösen soll sie, sonst braucht man einen Kommentar gar nicht zu schreiben.
Klein Report: Verarbeiten Sie Ihre Erfahrungen allenfalls zu einem Buch oder in welcher Form wird man künftig von Ihnen lesen können?
Gygax: Genug für ein Buch habe ich sicher erlebt, aber ich bezweifle, dass das genügend Leserinnen und Leser interessieren dürfte. Es ist geplant, dass ich als freier Mitarbeiter oder Kolumnist weiterschreiben werde.
Klein Report: Welche sonstigen Zukunftspläne haben Sie?
Gygax: Es würde mich reizen, das erworbene Know-how und das Netzwerk als Medien- und Kommunikationsberater einsetzen zu können. Ich bin gespannt, ob da ein Bedürfnis besteht. Und zudem kann ich in Zukunft dann segeln gehen, wenn der Wind bläst und nicht wenn ich auf dem Dienstplan einen Freitag habe.