Der Presserat ist zur Ansicht gelangt, dass ein Tamedia-Artikel die Wahrheitspflicht und das Gebot des Anhörens bei schweren Vorwürfen des Journalistenkodex verletzt habe.
Unter dem Titel «Kesb-Gutachten: Umstrittener Gutachter in Bedrängnis» publizierten am 3. Dezember 2020 die Online-Plattformen von Tamedia («Basler Zeitung», «Berner Zeitung», «Tages-Anzeiger», «Der Landbote» etc.) einen Artikel von Michèle Binswanger über den Gutachter Daniel Gutschner, der für verschiedene Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) tätig ist.
Am Tag darauf wurde derselbe Artikel in den Printausgaben des «Tages-Anzeiger» und weiterer Tamedia-Kopfblätter veröffentlicht, diesmal unter dem Titel «Verstoss gegen die Berufsordnung».
In den Artikeln wird unter anderem behauptet, dass der Kesb-Gutachter zweimal wegen falscher Rechnungsstellung verurteilt worden sei («zweimal der falschen Rechnungsstellung überführt») und dass er psychiatrische Dienstleistungen anbiete, obwohl er nicht über die richtige Ausbildung verfüge. Dazu gab es Links zu früheren Artikeln zum Thema. Diese sollten die Vorwürfe untermauern.
Das liege aber zu weit zurück, als dass sich die Leserschaft ein klares Bild hätte machen können. Und der knappe Verweis, zudem nur online, auf die frühere Publikation genüge nicht, meint der Presserat.
Zudem sei die Aussage, der Gutachter sei zweimal wegen falscher Rechnungen verurteilt worden, nicht korrekt: Im einen der zwei gerichtsrelevanten Fälle sei es um eine übliche Honorarkürzung gegangen (nicht um eine Verurteilung), im zweiten um einen nicht weiter belegten zivilrechtlichen Entscheid.
Hauptgegenstand des Berichts war das Anbieten psychiatrischer Dienstleistungen. Die Recherche ist breit, war aber auch hier mangelhaft: Sowohl hier wie bei den angeblich überrissenen Rechnungen handelt sich um schwere Vorwürfe, mit denen die Journalistin den Gutachter hätte konfrontieren müssen. Was sie unterliess: Sie informierte den Beschwerdeführer zwar, dass sie einen Artikel über ihn schreibe, benannte die Vorwürfe aber nicht genau oder gar nicht.
Gemäss Presserat müssen «harte Kritik und schwere Vorwürfe in einer fairen journalistischen Arbeit immer gut belegt sein. Und die betroffene Person muss damit präzis konfrontiert werden und Stellung nehmen können». Das gelte auch, wenn der Vorwurf zwar nicht neu sei, aber sehr lange zurückliege.
Der Presserat heisst in diesem Sinn eine Beschwerde gegen einen von Tamedia im Dezember 2020 online und im Print veröffentlichten Artikel gut.