Matera in der süditalienischen Basilicata war 2019 Kulturhauptstadt von Europa. Pier Paolo Pasolini drehte dort bereits Teile seines Films «Das Evangelium nach Matthäus». Auch Mel Gibson nützte gewisse Ähnlichkeiten zwischen Matera und Jerusalem für sein Historien-Drama «Die Passion Christi».
Diese beiden Vorbilder dienen nun dem Film- und Theatermacher Milo Rau als Basis für eine moderne Auseinandersetzung mit der Bibel. Rau erzählt in «Das Neue Evangelium» einmal mehr die Geschichte von Jesus aus Nazareth und seinen zwölf Aposteln – allerdings als eine radikale Neuinterpretation.
Rau hat Matera nicht nur als pittoreske Kulisse genutzt, die man in Hollywood billig als Jerusalem durchgehen lässt. Er wollte den Ort mit seinen sozialen Problemen von heute in die alte Geschichte von damals einbauen. Rau will dabei der Frage nachgehen: Wie würden Jesus und seine Jünger heute aussehen und welche Botschaft könnten sie unters Volk bringen?
So kommt Milo Rau auf die vielen aus Afrika nach Italien geflüchteten Migranten, die sich hier eine bessere Zukunft oder Schutz vor Verfolgung erhofft hatten. Wer Glück hat, endet als Erntehelfer. Einer von ihnen spielt nun Jesus als den Propheten einer sozialen Revolution.
Die Story: Yvan Sagnet stammt aus Kamerun und ist seit mehr als zehn Jahren Aktivist in einer «Revolte der Würde». Obwohl er eigentlich zum Studieren nach Turin gekommen war, fand er sich eines Tages in einer Notlage und sah keine andere Möglichkeit, als sich in Süditalien auf den Feldern zu verdingen. So geriet er in das System der «caporali», der Arbeitsvermittler, die darüber bestimmen, wer als Erntehelfer kümmerliches Geld verdienen kann.
Seine Apostel findet Yvan/Jesus unter den ausgebeuteten und rechtlosen Menschen, die sich mit «Sklaven» vergleichen.
Milo Rau begab sich bei den Dreharbeiten mitten hinein in die Auseinandersetzungen in Italien um den richtigen Umgang mit den Geflüchteten. Er hat bei Räumungen und Demonstrationen gefilmt. Vieles an seinem Jesus-Film ist dokumentarisch. Das gesamte Werk schliesslich eine Gratwanderung zwischen Dokumentation und angedeutetem Bibelfilm.
Eine typische Form für Milo Rau. Dieser ist in Bern geboren. Er startete seine Karriere mit Reportagereisen – später vor allem in Krisengebiete – und hat um das Jahr 2000 auch als Autor für die «Neue Zürcher Zeitung» geschrieben. Bis heute hat Rau über 50 Theaterstücke verfasst. Am Zürcher Schauspielhaus hat er zum Beispiel 2017 die Uraufführung von «Die 120 Tage von Sodom» selber inszeniert. Im Mai 2021 soll «Antigone im Amazonas» gespielt werden. Seit 2017 ist Rau auch fester Experte im «Literaturclub» auf SRF 1. Aktuell ist er Intendant des Stadttheaters im niederländischen Gent.
Mit seinem «International Institute of Political Murder» hat Milo Rau sich als Marke etabliert. In «Das Neue Evangelium» ist die christliche Bibel der kritische Schlüssel zu einer Analyse eines sozialen und politischen Missstands.
Das Werk wird in Deutschland gestreamt, mit jeder verkauften Karte können die Besucher ein Kino ihrer Wahl beteiligen. In der Schweiz wird der Film im März 2021 starten.