Die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) wurde im letzten Jahr von einer regelrechten Beschwerdeflut überrollt.
Der Klein Report sprach mit UBI-Präsidentin Mascha Santschi über die Medienaufsicht in Zeiten von Hate Speech und Fake News, über das Verhältnis ihres etwas exotischen Gremiums zum Bundesgericht und darüber, wie sich die Aufgabe der UBI im Zuge der Digitalisierung verändert und weiter verändern könnte, wenn der Staat in Zukunft auch Online-Medien fördert.
Die acht der UBI vorgelagerten Ombudsstellen der SRG und der privaten Veranstalter registrierten 2020 insgesamt 1194 Beanstandungen, gegenüber 636 im Vorjahr. Das ist fast eine Verdoppelung. Wie erklären Sie sich diese Explosion?
Mascha Santschi: «Corona spielte sicher eine Rolle, denn die Zunahme begann ab Frühling 2020. Ich sehe drei mögliche Gründe: Erstens wurden in dieser Zeit wegen des erhöhten Informationsbedürfnisses mehr Medien konsumiert. Zweitens nahm der Frust in der Bevölkerung über die Situation zu, die ausnahmslos jeden und jede betraf. Dieser Frust entlud sich unter anderem auch in Beschwerden gegen die Berichterstattung über Corona und die Massnahmen. Und drittens hatten zumindest Teile der Bevölkerung während der Massnahmen mehr Zeit, um Beanstandungen zu schreiben.»
2020 landeten 30 TV-Streitfälle vor der UBI, nur 13 betrafen Radiosendungen. In den Vorjahren waren die Proportionen ähnlich. Warum weckt die Flimmerkiste offenbar mehr Widerspruchsgeist beim Publikum als der Äther?
Santschi: «Das liegt primär an der Wirkung der Bilder, also an der ganzen nonverbalen Kommunikation des Fernsehens. Radio ist nüchterner in der Informations- und Emotionsvermittlung. Ein Grund, weshalb man die Programminhalte von Radio und Fernsehen gesetzlich regulieren wollte (im Gegensatz zum Print), war deren stärkere Wirkung auf das Publikum. Diese beinhaltet die Gefahr, dass die Meinungsbildung des Publikums durch Ton und vor allem Bild leichter manipuliert werden kann.»
Sie haben Anfang 2019 den Vorsitz der UBI übernommen. Nun haben Sie Ihr zweites Jahr hinter sich. Wie ist Ihre persönliche Bilanz?
Mascha Santschi: «Im Gegensatz zum ersten Jahr als Präsidentin verlief das zweite Jahr wegen Corona alles andere als in den gewohnten Bahnen. Neben der Beschwerdeflut, die es zu bewältigen gab, stellten sich viele logistische Fragen: Wie und wo – wegen des Platzes und der Mindestabstände – führen wir unsere publikumsöffentlichen Beratungen durch, wo doch allein schon unsere Behörde mit neun Mitgliedern und dem dreiköpfigen Sekretariat die Höchstgrenze an Personen sprengt, die anwesend sein dürfen? Oder: Wie gehen wir mit zunehmend ausufernden oder in einem gehässigen Ton verfassten Beschwerden um? Und dann erschütterte uns im September noch der unerwartete Tod eines unserer geschätzten, langjährigen UBI-Mitglieder.»
An Coronavirus und Lockdown scheiden sich die Geister. Aber schon vor der Pandemie war der öffentliche Diskurs gehässiger als noch vor zehn, zwanzig Jahren. Hate Speech und Fake News verbreiten sich heute per Mausklick und ohne grosse Skrupel über die sogenannten Sozialen Medien. Die UBI wirkt in diesem neuen Umfeld als eine etwas behäbige Institution, die den sogenannten Mainstream-Medien akribisch auf die Finger schaut. Weshalb ist die UBI aus Ihrer Sicht unverzichtbar im heutigen Mediensystem?
Santschi: «Die klassischen Medien, wie auch Radio und Fernsehen, gelten nach wie vor als vertrauenswürdiger als die Sozialen Medien. Sie spielen daher eine wichtige Rolle in der Meinungsbildung. Das hat sich in dieser Corona-Zeit bestätigt. Die Tatsache, dass man nicht die Faust im Sack machen muss, wenn man sich über die Radio- und Fernsehberichterstattung ärgert, sondern ein kostenloses Beanstandungs- und danach Beschwerdeverfahren einleiten kann und am Ende einen rechtsverbindlichen Entscheid in den Händen hält, erachte ich als wichtig und wertvoll. Die UBI musste aber gerade im letzten Jahr auch als ‚Blitzableiter‘ herhalten, vor allem eben im Zusammenhang mit den vielen Corona-Beschwerden. Diese Funktion finde ich in ausserordentlichen Zeiten wie jetzt grundsätzlich in Ordnung. Ich hoffe aber, dass das nicht der neue Standard wird.»
Wo sehen Sie die spezifische Aufgabe der UBI im gegenwärtigen Umfeld?
Mascha Santschi: «Der Kontrolle durch die UBI unterliegen zwar nur Radio und Fernsehen, aber diese beiden Medientypen bürgen dafür auch für eine gewisse Qualität. Sie müssen der Verfassung wegen beim Programm inhaltliche Mindeststandards einhalten, was behördlich überprüft werden kann. Durch diese Regulierung erhält der Rundfunk also eine Art Sonderstatus, was es Medienkonsumenten und -konsumentinnen erleichtert, die Informationen von Radio und Fernsehen einzuordnen und im gesamten medialen Informationsangebot entsprechend zu gewichten.»
Die SRG-Einheiten, allen voran SRF, forcieren die Transformation vom linearen Rundfunkveranstalter zum digitalen Medienunternehmen. Wie verändert dies die Rolle der UBI?
Santschi: «Bei der letzten Revision des Radio- und Fernsehgesetzes hat man das übrige publizistische Angebot der SRG – etwa deren Online-Beiträge, Teletext, Facebook-Posts – einer Überprüfung durch die UBI unterstellt. Das zeigt, dass der Aufgabenbereich der UBI durch die Politik an die neue Medienrealität angepasst werden kann. Derzeit sind aber keine grundsätzlichen Änderungen geplant, nachdem das Projekt für ein Gesetz über elektronische Medien abgebrochen worden ist. Längerfristig wird sich aufgrund der veränderten Medienkonsumgewohnheiten und der staatlichen Finanzierung von Online-Medien die Frage stellen, welche elektronischen Medien einer inhaltlichen Aufsicht durch die UBI bedürfen.»
Wie konkret schlägt sich die Digitalisierung in der Arbeit der UBI nieder?
Mascha Santschi: «Zu Diskussionen führte bei uns etwa, welche Berichte für die Beurteilung einer Beschwerde miteinbezogen werden dürfen, zum Beispiel mit Blick auf das Vorwissen, welches man beim Publikum voraussetzen darf, oder bezüglich der Frage, ob Verlinkungen in einem Online-Beitrag einen Vorwurf relativeren können. Recht und Realität klaffen wegen der technischen Entwicklungen manchmal auseinander, aber diese neuen Fragestellungen machen die Arbeit der UBI spannend.»
In welchen anderen Bereichen stehen bei der UBI in den nächsten Jahren Veränderungen ins Haus?
Santschi: «Wir haben seit Februar ein neues UBI-Mitglied aus der französischsprachigen Schweiz, die Freiburger Juristin und frühere Journalistin Delphine Gendre. Neu ist auch, dass wir seit diesem Jahr – wegen Corona – auf digitale öffentliche Beratungen umgestiegen sind. Wobei ich aber, ehrlich gesagt, froh bin, wenn wir wieder in den physischen Modus zurückwechseln können. Eine öffentliche Beratung erlebe ich als lebendiger und menschlicher, weil man einander richtig sieht und hört.»
Eine Beschwerde gegen einen «Kassensturz»-Beitrag zur Teilrevision des Versicherungsvertragsgesetzes hiess die UBI im letzten Jahr gut. Die SRG focht den Entscheid aber erfolgreich beim Bundesgericht an. Dagegen wies das höchste Gericht im letzten Jahr drei andere Beschwerden gegen UBI-Entscheiden ab, darunter den «Rundschau»-Beitrag über Pierre Maudet. Sind Sie zufrieden mit der Beurteilung Ihrer Arbeit durch die Bundesrichter?
Mascha Santschi: «Natürlich bin ich froh um jeden Entscheid der UBI, der vom Bundesgericht bestätigt wird. Wurde eine Beschwerde von uns selber aber nur mit einem knappen Stimmenverhältnis abgewiesen oder gutgeheissen – wie beim erwähnten ‚Kassensturz‘ (5 zu 4 Stimmen) –, dann rechnet man auch eher mit einer Aufhebung durch die Rechtsmittelinstanz als bei einem einstimmig gefällten Entscheid.»
Neben dem Bundesgericht wirkt die UBI wie David neben Goliath. Wie würden Sie das Verhältnis Ihres Gremiums zum Tribunal in Lausanne beschreiben?
Santschi: «Die UBI ist eine quasi-richterliche Instanz mit neun nebenberuflichen Mitgliedern im Spruchkörper, die neben juristischer fast alle auch journalistische oder kommunikative Berufserfahrung mitbringen. Unsere Mitglieder unterliegen keinem Parteienproporz und werden vom Bundesrat gewählt. Die Bundesrichter- und richterinnen sind hingegen professionelle Berufsrichter. Die UBI ist also sicher eine etwas exotische Vorinstanz des Bundesgerichts, verglichen etwa mit dem Bundesverwaltungsgericht oder einem kantonalen Obergericht.»