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Freitag
10.11.2017

Medien / Publizistik

jochen-wegner

Journalisten, Verleger und deren mediale Erzeugnisse müssen sich ständig neu erfinden, wenn sie relevant bleiben wollen. Die gerne bemühte «Demokratierelevanz» der vierten Gewalt ist nämlich kein Selbstläufer, sondern muss ständig neu geschaffen werden.

Am Journalismus-Tag in Winterthur präsentierte Jochen Wegner, Chefredaktor Zeit-Online, einige Erkenntnisse aus seinen «Experimenten über Demokratie» - und zeigte auf, wie Journalismus einen Beitrag zur Meinungsbildung leisten kann, ohne in die Rolle des Welterklärers zu schlüpfen.

Viel zu spät, «als das Rennen schon fast gelaufen schien», habe die «Zeit» in den Online-Journalismus investiert, so Jochen Wegner am Mittwochmorgen. Doch der Turnaround sei gelungen, der Zeit-Online gehe es gut. Seit zwei Jahren ist sie profitabel, hat 12 Millionen Unique User monatlich und 90 Vollzeitstellen, die sich etwa 130 bis 140 Leute teilen.

Dieser Erfolg erlaubt es der Zeit-Online, nach dem Motto «Kann gross werden, muss aber nicht» verschiedene Experimente «mit wenig Ressourcen» durchzuführen. Die vielen Versuche, die schief gelaufen sind, wolle Wegner nicht aufzählen. Stattdessen nannte er einige erfolgreiche Beispiele.

Dazu zählt das Projekt «Deutschland spricht»: Mit dem Ziel, die Leser für Debatten zu mobilisieren, habe Zeit-Online angefangen, politische Zwischenfragen, die mit «ja» oder «nein» beantwortet werden können, in die Texte einzugliedern. Nach Beantwortung der Fragen wurde den Leserinnen die Frage gestellt: «Sollen wir Ihnen jemanden vorstellen, der nicht Ihrer Meinung ist?».

Wer das wollte, konnte sich im realen Leben mit einer solchen Person zur Debatte, von Angesicht zu Angesicht, treffen. Resultat waren 12 000 Anmeldungen innert einer bis zwei Wochen, so Jochen Wegner. Eine Art Software habe die Personen für die Treffen zusammengebracht. Das Feedback war so gross, dass Zeit-Online entschieden habe, eine Grundlagenplattform für solche Treffen zu entwickeln.

Ein weiteres Experiment, das Wegner vorstellte, ist ein Event zum 20-Jahres-Jubiläum der Zeit-Online: Personen zwischen 20 und 29 Jahren wurden eingeladen, sich für ein Fest, das in Berlin organisiert wurde, zu empfehlen. «Sie mussten uns eine Bewerbung schicken mit einer Idee, wie die Welt besser gemacht werden kann», erklärte Wegner.

Resultat waren 5000 Bewerbungen und ein Fest mit 500 Teilnehmern, die sich intensiv über politische Themen ausgetauscht haben. Daraus sei sogar «eine Art politische Bewegung» entstanden, erklärte Jochen Wegner, eine Art Netzwerk, das sich von Zeit-Online losgelöst habe und unterdessen von einer Stiftung getragen werde.

Mit solchen Experimenten sei es Zeit-Online gelungen, die politische Debatte auf eine reale Ebene zu bringen, so Wegner, und damit einen Beitrag für die Demokratie zu leisten. Als Raum für den Meinungsaustausch diene zudem die Kommentarspalte, erklärte Wegner: «Die Kommentare erzeugen wiederum 10 Prozent der Reichweite von Zeit-Online.»

Damit schafft Zeit-Online auch auf der eigenen Plattform Platz für die Stimme ihrer Leserinnen und Leser und erfüllt so ein Stück weit die Funktionen wie Meinungsaustausch oder Event-Organisation, die sonst eher von Blogs oder Social-Media-Netzwerken erfüllt werden. So verhindert Zeit-Online möglicherweise, selber von eben diesen «parajournalistischen» Institutionen verdrängt zu werden.