Der Gottfried Keller-Preis 2016 geht an Pietro De Marchi für seinen neuen Lyrikband «La carta delle arance» («Das Orangenpapier»). Zudem vergibt die Martin Bodmer-Stiftung einen Förderpreis an das 13-köpfige Autorenkollektiv Association des jeunes auteures romandes et romands (AJAR) für die gemeinsam geschriebene Erzählung «Vivre près des Tilleuls».
Das «Luftig-Weite seiner Lyrik» lobte die Jury De Marchis Gedichtband am Samstag bei der Preisverleihung in der Kapelle des Kulturhauses Helferei in Zürich. «Die Abstecher in die Tiefen der eigenen und der universellen Geschichten seiner Erzählprosa, die grosse Gabe zuzuhören, von der seine Essays zeugen - all diese Instrumente, die De Marchi in seinen vorangegangenen Publikationen zunehmend verfeinert hat, geraten hier in Resonanz und bilden zusammen eine reife, klare und zugleich klangvolle Stimme.»
Der Dichter, Erzähler und Literaturwissenschaftler De Marchi repräsentiere eine «ungewöhnliche Stimme der italienischsprachigen Lyrik»: Die Sprache wie auch viele der Bezüge, seine Meister und die vornehmlich in der Provinz gelegenen besuchten Orte sind italienisch. Gleichzeitig sei die Stimme aber reich an französischen, deutschen und englischen Einflüssen, an Übersetzungen, Rhythmen und Liedern. «Eine lebendige Stimme, die wie alles Lebendige nach und nach wächst, die atmet, schweigt, sich wandelt und erneut zu Wort meldet», so die Preisjury weiter.
Pietro De Marchi, 1958 geboren und in Mailand aufgewachsen, studierte an den Universitäten Mailand und Zürich, wo er derzeit als Titularprofessor für italienische Literaturwissenschaft tätig ist. Daneben ist er «Professeur associé» an der Universität Neuenburg und Lehrbeauftragter an der Universität Bern. Er verfasste zahlreiche philologische und literarische Studien, beschäftigte sich unter anderem mit den Lyrikern und Prosaschriftstellern der italienischsprachigen Schweiz.
Eine Ehrengabe vergab die Stiftung an das Künstlerkollektiv AJAR für den gemeinschaftlich verfassten Roman «Vivre près des tilleuls». Mit dem Preis will die Jury «eine originelle Vorgehensweise» auszeichnen.
Am Anfang habe die Idee gestanden, gemeinsam einen Roman in einer Nacht zu schreiben. Zunächst wurde mit Esther Montandon (1923-1998) eine Autorin erfunden und mit einer Biographie versehen. Schliesslich suchte sich AJAR ein Thema aus, das möglichst weit von der eigenen Realität entfernt war: die Geschichte vom Verlust eines Kindes, angesiedelt in den 60er-Jahren, als noch kein Mitglied des Kollektivs geboren war.
2012 haben 13 Westschweizer Jungautoren und -autorinnen das Autorenkollektiv AJAR gegründet. Der Zusammenschluss tritt als solcher auf und möchte nicht den Einzelschriftsteller in den Vordergrund stellen.
Der ausgezeichnete Roman sei «weit mehr als das zeittypische Spiel, im Kollektiv Texte zu verfassen», urteilte die Jury, in der Vanni Bianconi, Thomas Bodmer und Isabelle Ruef sitzen. Dies zeige neben der Begeisterung der Juroren auch das Interesse eines der grossen französischen Verlagshäuser für das Gemeinschaftswerk.