Für Tagi-Journalist Constantin Seibt dürfen sich Bürger normalerweise getrost von der Politik fernhalten. Normalerweise: Nicht jedoch im Falle der Durchsetzungsinitiative. Hier gibt es für Seibt kein Abseits von Politik und keine Entschuldigung für eine Ja-Stimme. Weshalb er die Abstimmung als «Nazi-Moment» für die Schweiz bezeichnet, schreibt er in einem Artikel für den «Tages-Anzeiger» vom Donnerstag, der ungewohnt scharf daherkommt und zu dem er gegenüber dem Klein Report Stellung nimmt.
Gemäss den Ausführungen des Journalisten darf der Schweizer Bürger Politik ignorieren, ausser in Momenten, in denen «die Gesellschaft kippt, in denen der Staat in Gefahr ist». In der Schweiz sei ein solcher Moment lange undenkbar gewesen, mit der Durchsetzungsinitiative sei er nun aber da. Denn diese greift laut Seibt den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung und die Menschenrechte an, ohne die ein Land nicht funktionieren kann.
So schreibt er: «Das Gefährlichste an der Durchsetzungsinitiative ist das Lieblingsargument ihrer Anhänger: Keine Institution zählt, nur der Volkswille. Was nach der Sprache der Demokratie klingt, ist die Sprache der Diktatur.» So schlummere in der Initiative «in embryonaler Form das Denken des Totalitarismus».
Deshalb ist die Abstimmung für Seibt «der Moment der Entscheidung: der Nazi-Moment». Dies äussert sich gemäss dem Reporter darin, dass man nun abstimmen müsse, ob man auf der Seite des Rechtsstaats oder auf der Seite der Willkür stehe. Entschuldigungen für Nicht-Abstimmen und Ja-Stimmen gibt es für ihn nicht.
Auf die Frage, weshalb er den Artikel schrieb, antwortet Seibt gegenüber dem Klein Report am Donnerstag: «Ziel meines Artikels war es, die Folgen der Initiative aus möglichst vielen Blickwinkeln zu beleuchten.» Falls er recht habe mit der These, dass die Initiative das System der Schweiz verändern würde, «dann wäre ein sanfter Ton in meinem Artikel sicher falsch gewesen», begründet er die ungewöhnlich scharfe Kritik.
Mit dieser ist Seibt nicht alleine. So schreibt der Staatsrechtler Urs Saxer in einem Artikel vom Samstag im «Magazin», dass die Initiative grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien verletzt, kritisiert aber viel mehr noch die zunehmende «Niveaulosigkeit» vieler Initiativen.
So schreibt Saxer, dass seit 2010 100 Initiativen lanciert wurden, dies entspricht beinahe vier Fünftel aller Initiativen seit 1981. Den Grund für diese «Initiativflut» sieht er darin, dass politische Akteure Initiativen bewusst medial konzipieren - sprich: Parteien und Verbände nutzen die Skandalisierungstendenzen der Medien, um Politik zu betreiben.
Auf der Strecke bleibt da für den Professor für Völker- und Verfassungsrecht an der Uni Zürich die formale Ausgestaltung. «Initiativen sind oft zu detailliert, enthalten unklare Begriffe, werden in ihren Konsequenzen nicht durchdacht und mit dem Rest der Verfassungs- und Rechtsordnung formal und inhaltlich nicht koordiniert.»
Die Durchsetzungsinitiative ist für Saxer «ein Paradebeispiel einer formal völlig missratenen Verfassungsgebung». Darüber sind sich die meisten Staatsrechtsprofessoren und Staatsrechtsprofessorinnen der Schweiz einig. Auf ein entsprechendes Echo aus der Journalistenecke hat Herr und Frau Schweizer aber lange warten müssen.
Zwar sprachen sich Journalisten vereinzelt in verschiedenen Blättern gegen die Initiative aus, keiner wagte es jedoch bisher in der Form wie Tagi-Journalist Seibt, Giftpfeile in Richtung der Befürworter zu schiessen. Seinen Rundumschlag - der teilweise mit etwas pathetischen Formulierungen gespickt ist - kommt dabei vor allem die SVP zu spüren.
Für Seibt erklärt die Partei mit der Initiative den «Bundes-, Stände-, Nationalrat sowie die Gerichte für Landesverräter, Dunkelkammer, Zeitverschwendung, fremde Vögte». Ob ein Journalist in einer Zeitung so gegen eine Partei schiessen sollte, darüber kann und sollte man diskutieren.
Auf Interesse stösst der Artikel jedenfalls. Die Onlineversion wurde am Donnerstagnachmittag bis um 13.00 Uhr bereits 5000 Mal auf Facebook geteilt. Um 19.30 Uhr sogar bereits über 11 000 Mal.
Mit einer solchen Reaktion hat Seibt nicht gerechnet: «Ich wollte möglichst viele Blickwinkel auf die Problematik in einen Artikel packen. Wie gut dies bei den Lesern ankommt, weiss man im Vornherein nie.» Erstaunt ist er über die kleine Anzahl an «bösen» Mails, die er infolge des Artikels gekriegt hat. «Vielleicht hat man es aufgegeben, mich zu erziehen», lacht er.
Ausserdem habe ihn zum ersten Mal in seiner langjährigen Journalistenkarriere jemand im Tram angesprochen. «Ein Typ in Bankeruniform» habe ihn für seinen Artikel gelobt, sagt er zum Klein Report. Von seinen Journalistenkollegen anderer Medien hat er bisher noch kein Feedback bekommen. Ob er diese mit seinem Artikel aus dem Tiefschlaf holen konnte und ob sich diese seinem medialen Fackelzug gegen die Initiative anschliessen werden, bleibt abzuwarten.
Der Klein Report jedenfalls rät all seinen Lesern und Leserinnen zur Ablehnung der Initiative. Obwohl wir keine Sekunde daran zweifeln, dass unsere Leserschaft am 28. Februar sowieso Nein stimmen wird!