Der Verleger und Anwalt Charles von Graffenried, der 87-jährig gestorben ist, hat den Berner Medienmarkt umgekrempelt. Er war ein Medienstratege, aber auch ein kühl rechnender Geschäftsmann. Für den Klein Report würdigt ihn Roger Blum.
Es gibt in der Schweiz Verlegerdynastien, die teilweise seit dem 19. Jahrhundert über Generationen hinweg das Mediengeschäft betreiben. Dazu gehörten oder gehören etwa die Familien Ringier (Zofingen/Zürich), Coninx (Zürich), Lamunière (Lausanne), Wanner-Zehnder (Baden), Lüdin (Liestal), Dietschi (Olten), Gut (Stäfa), Zollikofer (St. Gallen), Gassmann (Biel), Soldati (Lugano) oder Salvioni (Bellinzona).
Charles von Graffenried stammte nicht aus einer solchen Familie, und er ist auch nie ein vollberuflicher Verleger geworden. Denn in erster Linie kümmerte sich der Berner Anwalt mit seiner Von-Graffenried-Gruppe um die Anliegen vermögender Leute in Bern, also um deren Liegenschaften, Steuern, Bank- und Rechtsgeschäfte. Damit machte der Jurist, Patrizier und Oberst viel Geld, und vielleicht hätte er sein ganzes Leben nur Treuhänder sein können. Doch es kam anders.
Grund dafür war, dass sein Vater ihn schon früh an die Aktionärsversammlungen der Berner Tagblatt AG mitnahm. Das «Berner Tagblatt» war eine vor allem in der Stadt Bern verbreitete populäre bürgerliche Zeitung, die bereits in den Sechzigerjahren auch eine Sonntagsausgabe produzierte. Der Vater besass ein paar Aktien, die er dann dem Sohn überliess, und da dieser sich für das Blatt interessierte und auch engagierte, wurde er 1975 in den Verwaltungsrat und bald auch zum Verwaltungsratspräsidenten gewählt. Charles von Graffenried entdeckte im Mediengeschäft sein Hobby.
In den späten Sechzigerjahren war die Berner Medienlandschaft noch sehr vielfältig. In der Stadt konkurrierten vier Pressetitel miteinander, nämlich der freisinnige «Bund», die sozialdemokratische «Berner Tagwacht», das bürgerliche «Berner Tagblatt» und die «Neue Berner Zeitung» als Organ der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (heute SVP).
Auf dem Land gab es wichtige Zeitungen in Biel, Burgdorf, Langenthal, Langnau, Münsingen, Thun, Spiez und Interlaken. Doch verschiedene Blätter vermochten sich nicht mehr alleine zu halten, und so setzte ein Konzentrationsprozess ein. Als Erste fand 1972 die serbelnde «Neue Berner Zeitung» der SVP beim «Emmentaler Blatt» in Langnau Unterschlupf, das sich fortan «Berner Zeitung» nannte und eine Auflage von etwa 46 000 Exemplaren auswies. 1977 fusionierte diese «Berner Zeitung» mit den etwa 41 000 Exemplare druckenden «Tages-Nachrichten» in Münsingen. Das Fusionsprodukt nannte sich «Berner Nachrichten». Diese «Berner Nachrichten» verbreiteten eine Auflage von 80 000 Exemplaren, hatten aber wenig Werbeeinnahmen.
Das «Berner Tagblatt» hingegen, das in der Stadt verankert war, hatte angeblich eine Auflage von 60 000 (in Wirklichkeit war sie kleiner), kam aber besser an die Werbung heran. Der erste Geniestreich von Charles von Graffenried war es nun, die beiden Zeitungen 1979 zu fusionieren, aber die Führung dem kleineren «Berner Tagblatt» zuzuschanzen: Die neue «Berner Zeitung» wurde von der Berner Tagblatt AG (später Espace Media) herausgegeben, und ihr Verwaltungsratspräsident war Charles von Graffenried.
Hier zeigte sich erstmals das grosse Talent des Hobbyverlegers: Er hatte eine Leidenschaft für die Medien entwickelt, deren Zukunft er als kühner Stratege mitplante, aber er blieb stets der kühl rechnende, wenn nötig kaltblütig taktierende Geschäftsmann. So konnte er zusammen mit dem vermögenden Papierunternehmer-Ehepaar Erwin und Franziska Reinhardt-Scherz die «Berner Zeitung» bald auch wirtschaftlich kontrollieren. 1989 gelang es ihm, in letzter Minute zu verhindern, dass die Zürcher Tamedia die Mehrheit bei der «Berner Zeitung» übernahm; sie musste sich mit 49 Prozent begnügen. 1998 glückte ihm die Ausdehnung seines Einflussbereiches ins Berner Oberland.
2004 griff er nach dem wirtschaftlich ungesicherten, ja defizitären Konkurrenzblatt «Bund», das über längere Zeit zuerst von Ringier, dann von der NZZ-Gruppe über Wasser gehalten worden war, und realisierte das von ihm seit Langem propagierte «Berner Modell»: zwei publizistisch im Wettbewerb stehende Zeitungen unter dem gleichen Verlagsdach nach dem Vorbild von Stuttgart und Chur. Sein Sensorium für Innovationen war ausgeprägt: Sobald es möglich war, betrieb sein Verlag auch Radio und Fernsehen - mit Radio Extra Bern und mit Telebärn, ging online, beteiligte sich an der Gratiszeitung «20 Minuten», eröffnete einen Newsroom. Mit Albert P. Stäheli, der heute die NZZ-Gruppe dirigiert, hatte er einen effizienten Manager an seiner Seite. Längst waren angesichts der Werbevormacht der «Berner Zeitung» auch andere Blätter verschwunden, so die «Berner Tagwacht» oder das «Burgdorfer Tagblatt».
Doch stiess von Graffenrieds Expansionsstrategie an Grenzen. Das «Bieler Tagblatt» und die «Freiburger Nachrichten» arbeiteten nur punktuell mit der «Berner Zeitung» zusammen; unter ihren Mantel schlüpfen wie die Zeitungen im Berner Oberland wollten sie nicht. Die «Solothurner Zeitung» entschied sich dafür, im Verbund mit der «Aargauer Zeitung» von Peter Wanner zu bleiben. Das Kampfprodukt «Solothurner Tagblatt», das Charles von Graffenried darauf lancierte, war insofern ein Misserfolg, als es die «Solothurner Zeitung» nicht wirklich schwächte; es wurde schliesslich wieder eingestellt. Mittelfristig war der Markt definiert.
Die anbrechende Zeitungskrise, die zeigte, dass die Leserschaft kleiner wurde, verhiess nichts Gutes. So entschied sich denn der Berner Patrizier 2007, sein Medienunternehmen Espace Media der Zürcher Tamedia zu verkaufen - wahrscheinlich die Rettung für den «Bund», der zu einer Art Kopfblatt des «Tages-Anzeigers» wurde, aber letztlich doch eine Kapitulation des autonomen Berner Medienstandorts vor dem Zürcher. Fortan wirkte der Berner Medienstratege im Verwaltungsrat der Tamedia mit.
Charles von Graffenried arbeitete bis ins hohe Alter hochkonzentriert und sehr strukturiert. Er konnte farbig erzählen. Wenn er Expertise brauchte, hörte er aufmerksam zu und fasste dann militärisch knapp und klar zusammen, was er gelernt hatte. Er hasste es, wenn jemand zu einem Termin nicht pünktlich erschien. Im Berner Holländerturm, der ihm gehörte, versammelte er oft kleine Runden, um die Lage der Medien zu analysieren. Seit mehr als zwei Jahrzehnten verlieh er den Lokaljournalismuspreis und den Schweizer Pressefotopreis.
Zusammen mit Erwin und Franziska Reinhardt-Scherz legte er 2010 einen Teil des Vermögens, das die drei angesammelt hatten, in der Fondation Reinhardt von Graffenried an, einer Stiftung, die mit noch stärker ausdifferenzierten Preisen journalistische Qualität belohnt. Wie Joseph Pulitzer, der zu seinen Lebzeiten mit seinen Blättern vor allem den Profit suchte, aber mit dem wichtigen Pulitzer-Preis dauerhaft journalistische Standards gesetzt hat, wird Charles von Graffenried durch seine Preise weiterwirken.